Voraussetzung für ein erfolgreiches Überpüfungsverfahren vor der Vergabekammer ist nach § 107 II GWB die Antragsbefugnis (grundsätzlich muß ein Angebot abgegeben werden - trotz der Fehler im Vergabeverfahren (soweit möglich und zumutbar) ! - sowie insbesondere nach § 107 III GWB die konkrete und als solche eindeutig erkennbare rechtzeitige = unverzügliche Rüge.

Literatur: Braun, J.,Zur unverzüglichen Rüge beim Erkennen eines Fehlers im Vergabeverfahren, NZBau 2000, 320;
Willenbruch, Klaus,Rügepflicht nach § 107 Abs. 3, 108 Abs. 2 GWB - ein Stolperstein in der Vergaberechtspraxis, BB 2001, 7;
Gesterkamp, Stefan, Die positive Kenntnis des Bieters vom Vergabeverstoß, NZBau 20001, 126.

Entscheidungen:

OLG Rostock, 10.5.2000 - 17 W 3/00 - NZBau 2001, 287 - gemischte Siedlungsabfälle - Abfalleinsammlung II - Rüge - Rechtzeitigkeit - Zulässigkeit - Zuschlag auf den niedrigsten Preis - nachprüfbarer Beurteilungsspielraum - Wertungskriterien neben dem Preis
"Die Unzulässigkeit eines Antrags ist danach anzunehmen, wenn der Bieter - nachdem er erkannt hat, dass der von ihm behauptete Verstoß vorliegt - nicht all das unternommen hat, was aus seiner Sicht erforderlich war, eine schnellstmögliche Korrektur des von ihm geltend gemachten Fehlers zu erreichen (vgl. u.a. OLG Naumburg OLG Report 2000, 108 f. m.w.Nachw.).
Die Rügepflicht darf aber nicht dazu führen, dass der Bieter Gefahr läuft, im Fall eines vorgeschalteten Rügeverfahrens seinen Rechtsschutz zu verkürzen. Eine Gefahr in diesem Sinne wird heraufbeschworen, wenn dem Bieter nach Einleitung eines Rügeverfahrens und einer entsprechenden Stellungnahme des Auftraggebers keine ausreichende Zeit verbleibt, durch einen Antrag bei der Vergabekammer rechtzeitig den Suspensiveffekt gem. § 115 GWB herbeizuführen und dadurch einen Zuschlag zu verhindern. Hierbei darf nicht eine objektive Sicht entscheidend sein, sondern muß die subjektive Sicht des Bi9eters den Ausschlag geben. Der Begriff der Unverzüglichkeit i. S. des § 107 III 1 GWB beinhaltet insoweit auch ein subjektives Moment." - im Einzelfall: sechs Werktage, davon zwei Tage vor Jahreswechsel - jedenfalls unter Berücksichtigung der Umstände (Behördentätigkeit und Vergabekammer <Urlaubsgründe>) rechtzeitige Rüge -
Rüge: "Dumping-Preis" - unauskömmliches Gebot - Verstoß gegen § 25 Nr. II VOL/A verneint - kein Vergleich der Preise der Einzelpositionen, sondern des Gesamtangebots - "Ein Missverhältnis ist offenbar, wenn das grobe Abwichen vom angemessenen Preis sofort ins Auge fällt (vgl. OLG Celle WUW/E 1999 Verg, 253-254). Ein offenbares Missverhältnis ist hier nicht erkennbar - Erklärung des berücksichtigten Bieters für niedrigen Preis nachvollziehbar - "Die Beigeladene hat in ihrem Kalkulationsschreiben vom 27.12.1999 als wesentlichen Gesichtspunkt angeführt, sie könne auf eine vorhandene Logistik zurückgreifen, und die vergleichsweise niedrigen Preise für Behälterentgelte seien durch die Nutzung des Behälterpools der Firma N. möglich, wobei davon ausgegangen werden könne, dass gebrauchte ASB mit Transponder bereitgehalten werden könnten. Angesichts dieser Erklärung und der Erkenntnis, dass sich bei der Müllentsorgung noch keine festen Preisgefüge herausgebildet haben (vgl. OLG Celle, ebda.), hat der Senat keine Veranlassung, von Amts wegen den Vorwurf weitergehend etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens abzuklären."
Senat kann entscheiden - der Beurteilungsspielraum unterliegt der gerichtlichen Überprüfung (vgl. BGH, NJW 2000, 137 = WM 1999, 1027 [1030]; NZBau 2000, 35 = NJW 2000, 661 = WM 2000, 86 [89]) - abschließende Wertung durch den Senat - niedrigster Preis: "Zwar ist der Ausschreibende - wie sich aus § 25 Nr. III 3 VOL/A ergibt - nicht verpflichtet, dem Gebot mit dem niedrigsten preis in jedem Fall den Vorzug zu geben. Der Zuschlag ist nach § 25 Nr. 3 S. 2 VOL/A vielmehr dem unter Berücksichtigung aller technischen, wirtschaftlichen und funktionsbedingten Gesichtspunkte annehmbarsten Gebot zu erteilen (vgl. BGH NZBau 2000, 35 = NJW 2000, 661 = WM 2000, 86 [87]). Dass sich die Gebote der Antragstellerin und der Beigeladenen in technischer, gestalterischer und funktionsbedingter Hinsicht unterscheiden, ist nicht feststellbar."
Weitere Prüfung des Einzelfalls: nicht erheblich Niederlassungsentfernungen - keine erheblichen witterungsbedingten Unsicherheiten (Straßenverhältnisse) - Unrichtigkeit des Vorwurfs der Kalkulation mit zu geringer Zahl von Sammelfahrzeugen - "Da es an weiteren Gesichtspunkten fehlt, die für die Antragstellerin und gegen die Beigeladene sprechen, muss der Preis als maßgebliches Entscheidungskriterium gelten. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Antragsgegnerin die haushaltsrechtliche Pflicht zu höchstmöglich sparsamer und effektiver Verwendung öffentlicher Gelder zu beachten hat (vgl. BGH NZBau 200, 35 = NJW 2000, 661 = WM 2000, 86 [88]). Dies gilt erst recht deshalb, weil dem Antragsgegner im Falle von - derzeit nicht ersichtlichen - Entsorgungsengpässen die Möglichkeit offensteht, den Vertrag aus wichtigem Grund zu kündigen und Alternativlösungen zur Entsorgung zu entwickeln, ohne dass ein nachhaltiger Schaden entsteht."
Hinweise: Die Entscheidung stellt die Praxis weiterhin vor erhebliche Fragen: Kann die Erklärung des Preises und in welchem Umfang verlangt werden ? Welche zusätzlichen Wertungskriterien kommen neben dem Preis in Betracht ? Was ist unter technischer, gestalterische und funktionsbedingter Hinsicht zu verstehen ? Insbesondere im Zusammenhang mit einer Müllentsorgung ?

Vor allem: Sind die angesprochenen Punkte nicht Gegenstand der eindeutigen, erschöpfenden und wettbewerbsgeeigneten Leistungsbeschreibung ?
KG, Beschl. V. 19.4.2000 - KartVerg 6/00 - NZBau 2001, 161 - Informationssystem - keine abschließende verbindliche Verwaltungsentscheidung über den Weg des Verhandlungsverfahrens - "Vor dem Hintergrund derartiger Ungewissheit und der ebene erst an der Verwaltungsspitze betriebenen Klärung scheidet eine Behandlung der Rüge der Beschwerdeführerin als verspätet aus. War so lange keine verbindliche Entschließung getroffen worden, kann der Beschwerdeführerin nicht vorgehalten werden, zu spät eine falsche Wahl der Vergabeart gerügt zu haben." - keine Ausnahmetatbestände für das Verhandlungsverfahren nachgewiesen - kein Eingreifen der analogen Anwendung des § 5 b VOL/A (Rahmenvertrag nur für Sektorenbereich ?) - keine Begründung nach § 3 Nr. 4 b VOL/A (Anschlussentwicklungsleistungen) - kein Eingreifen des § 3 a Nr. 2 c VOL/A wegen Ausschließlichkeitsrechts (Software) - "Wenn aber Schutzrechte des Konsortiums Außenstehenden den Zugang versperrten, fragte sich, ob sie nicht für die IT-Versorgung der öffentlichen Hand auf dem Gebiet der Sozialhilfeleistungen und Kinder- und Jugendhilfe eine marktbeherrschende Stellung des Konsortiums begründen, die von diesem missbraucht würde (§ 19 IV GWB), wenn es Konkurrenten ein für die Anwendung weiter entwickelter Software unverzichtbares Anrühren der Basis 3000-Software verwehrte." - kein Eingreifen des § 3 a Nr. 2 e VOL/A (zusätzliche Lieferungen: "Die geltend gemachte Unverhältnismäßigkeit an Schwierigkeiten bei Bezug der IT Fachverfahren von einem anderen Anbieter als dem Konsortium X ist nicht zu ersehen. Der Beschwerdegegner stellt sie als bloß unsubstanziierte Befürchtung in den Raum. Der Wettbewerb bei öffentlicher Ausschreibung kann sehr wohl Angebote mit praktikablen Lösungen hervorbringen. Von der Unverhältnismäßigkeit könnte nicht mehr gesprochen werden, wenn eine gewisse Einbuße an Nutzungskomfort durch ein hohes Kosteneinsparungspotential kompensiert würde.").
Hinweis:
Für die Voraussetzungen des Verhandlungsverfahrens ist der der Auftraggeber darlegungs- und beweispflichtig !

OLG Düsseldorf, Beschluß vom 18.10.2000 - Verg 2/00 - NZBau 2001, 156 - Versicherungsauftrag - Übertragung der Durchführung des Vergabeverfahrens an Makler:
Eine Rügeobliegenheit besteht aber nur im Vergabe-, nicht im Nachprüfungsverfahren. Eine Obliegenheit zur (unverzüglichen Rüge) "außergerichtlichen" Erklärung einer Rüge entsteht somit nicht mehr, wenn der Antragsteller während des Nachprüfungsverfahrens , das er wegen einem anderen Vergaberechtsverstoß beantragt hat, von einem weiteren Verstoß Kenntnis erlangt, den - zulässigerweise - in das Verfahren einbringen will...."
Vgl. OLG Düsseldorf, NZBau 20001, 106 - Restabfallbehandlungsanlage II; OLG Celle NZBau 2000, 105 = NJW 1999, 3497 = NVwZ 1999, 1257 - Bio-Tonnen.
BayObLG, Beschl. v. 24.10.2000 - Verg 6/00 - EWIR 2001, 273 mit zustimmenden Kommentar von Dreher/v. Rintelen - Änderungsvorschläge - Berücksichtigung ungerügter Verstöße im Vergabeüberprüfungsverfahren: Vergabekammer kann auch Verstöße berücksichtigen, die der Antragsteller nicht gerügt hat - Ausnahme: Präklusion - Änderungsvorschläge: Nachweis auch der quantitaven Gleichwertigkeit/Zweckdienlichkeit

Weitere Einzelheiten:
Voraussetzung für ein erfolgreiches Überpüfungsverfahren vor der Vergabekammer ist nach § 107 II GWB die Antragsbefugnis (grundsätzlich muß ein Angebot abgegeben werden - trotz der Fehler im Vergabeverfahren (soweit möglich und zumutbar) ! - sowie insbesondere nach § 107 III GWB die konkrete und als solche eindeutig erkennbare rechtzeitige = unverzügliche Rüge.


Ferner ist erforderlich, daß die Rüge erkannter Verstöße "unverzüglich" gegenüber der Vergabestelle erfolgt. In diesem Fall ist der Antrag an die Vergabekammer unzulässig. Ferner ist der Antrag unzulässig, wenn auf Grund der Bekanntmachung erkennbare Verstöße gegen Vergabevorschriften nicht spätestens bis zum Ablauf der Angebotsfrist oder Teilnehmerfrist gerügt werden. Diese neben § 126 GWB (rechtsmißbräuchliches Vergabeverfahren) seit dem 1.1.1999 bestehenden "Hürden" für den Bewerber/Bieter im Überpüfungsverfahren sind sehr hoch - es bestehen insofern Bedenken, ob es sich noch um eine ausreichende Umsetzung der EG-Richtlinien handelt.

Die Einzelheiten der Rügeerfordernisse sind sehr strittig (scharfe Form erforderlich ? Mitteilungen z.B. bei Musterbesichtigung ausreichend ? Androhung des Vergabeüberprüfungsverfahrens der Vergabestelle vor Augen gehalten ? etc.). Bieter, die sicher gehen wollen, sollten hier ebenso wenig Risiken eingehen wie Vergabestellenmitarbeiter, denen lediglich mündliche Vorhalte gemacht werden, die dann von der Vergabekammer als ausreichende Rüge angesehen werden. Die Entwicklung ist insofern zu beachten. Man sollte im Zweifelsfall dafür sorgen, daß eine Klärung erfolgt.
Beachte Aktuelles sowie Vergabetip

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