Grundsätze des EU-Vertrags gelten auch unterhalb der Schwellenwerte

Nachdem die Mitteilung der EU-Kommission über den Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte mehrere Staaten, darunter auch Deutschland, aufschreckte, kam es bekanntlich zur Entscheidung des Europäischen Gerichts (EuG, nicht EuGH) vom 20. Mai 2010 (Aktenzeichen T-2058/06). Danach gelten die Grundsätze des EU-Vertrags (Niederlassungsfreiheit, Transparenz, Gleichbehandlung etc.) auch unterhalb der Schwellenwerte. Ein Verstoß gegen diese Grundsätze darf nicht dazu führen, dass der Betroffene schutzlos ist.


Dies wirkt sich insofern bereits grundsätzlich in einigen neueren Entscheidungen aus. Zumindest theoretisch ist es denkbar, dass die Zivil- oder Verwaltungsgericht auch unterhalb des Schwellenwerts angerufen werden können, um den Zuschlag zu stoppen – und nicht nur (vor allem bei Bauaufträgen bis 4.845.000 €) auf Schadensersatzansprüche nach dem Zuschlag verwiesen zu sein. Es könnten sich daher für öffentliche Auftraggeber demnächst selbst im Bereich der VOL/A (193.000 € o. MwSt.) schon vermehrt vor dem Zuschlag neue Hürden ergeben – im VOB/A-Bereich ohnehin. Das BMWI hat Ende 2010 insofern eine Studie zum Unterschwellen-Rechtsschutz sowie weitere Studien ausgeschrieben. Gegner und Befürworter stehen sich gegenüber. Schon „enteilt“ die Rechtsprechung den Reformbestrebungen, zumal dafür nicht nur europarechtliche, sondern entgegen früherer Rechtssprechung des BVerfG auch verfassungsrechtliche Gründe sprechen. Öffentliche Auftraggeber müssen schon jetzt mit entsprechenden Schritten der Bieter rechnen.

Ausgangspunkte: EuG, Urt. v. 20.5.2010 - T-258/06 – NZBau 2010, 510 – zur „Mitteilung“ der EU-Kommission (nur „deklaratorisch“) hinsichtlich der Vergabe nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallender öffentlicher Aufträge – bereits VOLaktuell 4-5/2010

OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.1.2010 — 1-27 U 1/09 - VergabeR 2010, 531, m. Anm. v. Braun = IBR 2010, 160 = EWiR 2010, 295, Anm. v. Finke, Matthias/Hangebrauch, Ralf/Gerberding, Johannes.
EuGH, Urt. v. 23. 12.2009 - C-376/08 – VergabeR 2010, 469, m. Anm. v. Pinkenburg/Volz .
„Altes Thema“ jetzt „gereift“ und unvermeidbar.

Das Thema ist alt – bereits im Jahr 2003 erschien ein Beitrag des Richters am Bundesverfassungsgericht, Siegfried Broß: Vergaberechtlicher Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte (ZWeR 2003, 270). Er bejahte grundsätzlich einen verwaltungsrechtlichen Rechtsschutz (anders als BVerfG und BVerwG). Die Umrisse des einstweiligen Rechtsschutzes unterhalb der Schwellenwerte wurden bis heute immer deutlicher.

Vor allem die europarechtliche Sicht rückte nach der EU-Mitteilung zu Verfahren unterhalb der Schwellenwerte immer stärker in das Blickfeld.

Allerdings versuchte man seitens der öffentlichen Hand selbst auch über Allgemeine Geschäftsbedingungen den Rechtsschutz abzuwehren, nämlich über „Allgemeine Bewerbungsbedingungen“ (vgl. z. B. § 8 I b) VOL/A). Entsprechende Klauseln waren und sind natürlich sehr kritisch: „Der Auftraggeber verfährt nach der „Verdingungsordnung für Bauleistungen“, Teil A „Allgemeine Bestimmungen für die Vergabe von Bauleistungen“ (VOB/A). Die VOB/A wird nicht Vertragsbestandteil; ein Rechtsanspruch des Bieters auf die Anwendung besteht nicht.“ „Bewerbungsbedingungen“ sind für eine Vielzahl von Fällen gedacht und einseitig gestellt (vgl. § 305 I BGB) (vgl. Hierzu Schmitt, Michaela, Vertragsstrafen und Schadenspauschalierungen in AGB der öffentlichen Hand, insbesondere in BVB und EVB-IT, CR 2010, 693).

Da es sich insofern folglich um AGB handelt, ist von der Unangemessenheit nach §§ 307, 310 BGB Unwirksamkeit auszugehen; denn durch die Formulierung werden Ansprüche nach den §§ 241 II, 311 II, 280 f BGB – culpa in contrahendo – ausgeschlossen. Wenn ein Rechtsschutz im Unterschwellenbereich freilich greifen soll, müsste aus Gründen der Transparenz im Übrigen auch eine Information, wenn auch in weniger strenger Form des § 101a GWB, vorgesehen sein – einschließlich Akteneinsicht. Andernfalls könnten an die Glaubhaftmachung keine großen Anforderungen gestellt werden. Aus den bislang vorliegenden Entscheidungen (z. B. des OLG Düsseldorf, s.u.) folgt im Übrigen („zwischen den Zeilen“) ein starkes Unbehagen wegen der Rechtsschutzlücke vor allem bei Bauaufträgen derzeit bis zu einem Schwellenwert von 4.845.000 € netto. Hier ist es mit einem „Dulde und Liquidiere“ nicht nur für Mittelständler (Schadensersatzanspruch: „entgangener Gewinn“) nicht getan; das Ziel der Bauunternehmer ist der Auftrag für die Beschäftigung der Mitarbeiter – und nicht ein Schadensersatzanspruch.

Rechtsprechung und Literatur:

EuG, Urt. v. 20.5.2010 - T-258/06 – NZBau 2010, 510 – zur „Mitteilung“ der EU-Kommission (nur „deklaratorisch“) hinsichtlich der Vergabe nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallender öffentlicher Aufträge;

EuGH, Urt. v. 21.10.2010 - C - 570/08 – vgl. EuGH, Urt. v. 6.1.2010 - C - 570 / 08 vom 06.01.2010 - Stadtentwässerungsamt Lefkosia - Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665 verlangt von den Mitgliedstaaten nicht, dass sie einen gerichtlichen Rechtsweg gegen Entscheidungen der Überprüfungsinstanzen auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorsehen. Die Mitgliedstaaten können, müssen das aber nicht vorsehen. Im deutschen Vergaberecht ist von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Dort ist die Beschwerde durch öffentliche Auftraggeber vorgesehen (§ 116 Abs. 1 GWB). Die Entscheidung ist folglich nach deutschem Vergaberecht nicht relevant. Im Übrigen ist der amtliche Leitsatz zu beachten: Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 geänderten Fassung) ist dahin auszulegen, dass er für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung schafft, auch zugunsten öffentlicher Auftraggeber gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der für Nachprüfungsverfahren auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Grundinstanzen, die keine Gerichte sind, vorzusehen. Diese Bestimmung hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, in ihren jeweiligen Rechtsordnungen gegebenenfalls einen derartigen Rechtsschutz zugunsten öffentlicher Auftraggeber vorzusehen.

OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.1.2010 — 1-27 U 1/09 - VergabeR 2010, 531, m. Anm. v. Braun = IBR 2010, 160 = EWiR 2010, 295, Anm. v. Finke, Matthias/Hangebrauch, Ralf/Gerberding, Johannes – Freizeitzentrum;

LG Potsdam, Beschl. v. 20. 11.2009 - 40 371/09 – VergabeR 2010, 539, m. Anm. v. Finke/Hangebrauck – Flächennutzungsplan zu Preisen unterhalb der zwingend festgelegten HOAI-Sätze –

Verwaltungsgericht Köln, Beschl. v. 6.4.2009 - 4 K 6606/08 - NZBau 2009, 535 (Leits.), m. ausführlicher Anm. v. Braun, Christian - Rechtswegzuweisung an Vergabekammern verdrängt Verwaltungsrechtsweg umfassend - § 116 I, III GWB, § 17a II GVG - Verwaltungsgericht Köln, Urt. v. 6.4.2009 - 4 K 4737/08 - NZBau 2009, 536 (Leits. D. Red.) – Schülerbeförderung.

André, Tobias, Quod erat illustrandum: Die interpretative Konkretisierung primärrechtlich fundierter Vergabeverfahrensstandards auf dem unionsgerichtlichen Prüfstand, NZBau 2010, 611 (zugleich Besprechung EuG, Urt. v. 205.2010 – T-258/06 – NZBau 2010, 510 – Unterschwellenmitteilung)

BMWI – Reform des Vergaberechts 2011 – BMWi: Vergabe einer Studie „Statistische Daten im öffentlichen Beschaffungswesen“ - Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) - Referat I C 4 - Villemombler Str. 76 - D-53123 Bonn - Telefon: (+49 30 18) 6 15-27 21 - Fax: (+49 30 18) 615-26 98, oder -44 36 - E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. - Internet: www.bmwi.de - Bearbeitungsnummer: I C 4 - 02 08 15 - 08/11 - Thema: Statistische Daten im öffentlichen Beschaffungswesen Ermittlung von Anzahl und Volumina nationaler und europaweiter Ausschreibungen auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen (Strukturerhebung) –

Kurzbeschreibung: I. Hintergrund - In der Koalitionsvereinbarung zur 17. Legislaturperiode ist die weitere Reform des bestehenden Vergaberechts beschlossen. Die Regelungen sollen gestrafft und deren Verfahren und Festlegung vereinfacht werden. Der Rechtsschutz unterhalb der EU-Schwellenwerte soll neu ausgestaltet werden, um die Transparenz dieser Verfahren zu stärken. Daneben sollen auch die Erfahrungen aus der Anhebung der Schwellenwerte in der VOB und VOL als Teil der Maßnahmen des Konjunkturpakets II evaluiert und die Ergebnisse bei der Reform des Vergaberechts berücksichtigt werden. Die Entscheidungen über Notwendigkeit und Umfang der erforderlichen Reformschritte müssen auf einem soliden Fundament getroffen werden. Dazu gehört ein umfassendes Datengerüst, welches insbesondere die Verteilung der Anzahl und Volumina der Vergaben von Bund, Ländern und Kommunen auf Größenklassen z. B. oberhalb wie unterhalb der EU-Schwellenwerte detailliert erfasst. Freihändige Vergabe mit Teilnahmewettbewerb – Frist für Teilnahmeantrag: 12.1.2011.

Lauterbach, Thomas, Zum Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte, VergabeNavigator, 2010, Nr. 3, S. 6;

Otting, Olaf, Rechtsschutz in Vergabeverfahren nach der Vergaberechtsreform 2009, Forum Vergabe, Jahrbuch 2009, Band 29, S. 85;

Lenhart, Katharina, Aktuelle Fragen bei Unterschwellenverfahren nach VOB/A, VergabeR 2010, 336;
Schwarze, Jürgen, Hrsg., Verfahren und Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht, 2010, Nomos;

Statistik - Anzahl der Vergabekammer- bzw. OLG Verfahren – Überprüfungsverfahren 2009 – nach der Statistik (vgl. § 129a GWB) des BMWI – www.bmwi.de – kam es 2009 zu 1275 Verfahren vor den Vergabekammern, von denen 472 zurückgenommen, 85 als unzulässig abgewiesen und 236 zugunsten der öffentlichen Auftraggeber sowie 206 zugunsten der Antragsteller entschieden wurden. Von den 199 Beschwerdeverfahren vor den OLGen erfolgte die Rücknahme der Beschwerde in 69 Fällen, die Zurückweisung der Beschwerde in 47 Fällen, 36 Beschwerden waren erfolgreich bzw. 9 überwiegend erfolgreich. Angesichts der ca. 32.000 Vergabestellen, die eine Vielzahl von Vergabeverfahren durchzuführen haben, sind die Zahlen der Überprüfungsverfahren erstaunlich. Allerdings ist zu beachten, dass diese Überprüfungsverfahren sich lediglich auf Verfahren oberhalb der Auftragsschwellenwerte (von 193.000 bzw. 4.845.000 € (Bauaufträge) beziehen, nicht jedoch auf Vergaben mit Schwellenwerten unterhalb der genannten Schwellenwerte, die ca. 90 % aller Aufträge ausmachen. Wenn der Rechtsschutz in diesem Bereich zugunsten der Bewerber/Bieter verbessert wird, könnte bzw. dürfte sich das Bild schlagartig ändern.

Deutscher Anwaltsverein schlägt gesetzliche Regelung zum Rechtsschutz unterhalb der EU-Schwellenwerte vor – NZBau 2010, Heft 5, VIII – www.anwaltverein.de - Stellungnahme v. 12.4.2010 - (ab Auftragswert über 10.000 € netto, Einzelrichterentscheidung, eingeschränkter Untersuchungsgrundsatz, mündliche Verhandlung etc.) – Hinweis: der vorgesehene Mindestbetrag von 10.000 € netto für das erleichterte Nachprüfungsverfahren ist praxisfremd angesetzt – es wird darauf hingewiesen, dass bislang unterhalb der Schwellenwerte für VOF und VOL/A (derzeit 193.000 €) keine Schadensersatzklagen bekannt sind – folglich sollte nicht der Betrag von 10.000 € im Bereich der VOL/A, sondern ein Betrag von zumindest 100.000 € netto vorgesehen sein – im Baubereich sollte der Schwellenwert bei 500.000 € oder 1.000.000 € liegen

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