Vorsicht bei Zurückweisung von Rügen

Große Probleme bereiten die Frist der § 101 b II GWB und noch schwerwiegender sind die Fristen des § 107 III Nrn. 1 und 4. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass die genannten Bestimmungen möglicherweise unterschiedlich angewandt bzw. ausgelegt werden müssen. Im Wesentlichen geht es darum, ob z. B. die Regelung des § 107 III Nr. 1 GWB aus der Sicht des Bieters hinreichend klar ist bzw. um die Frage, ob es sich um Rechtsbehelfsfristen handelt, auf die der Bieter entweder im Bekanntmachungsformular oder z. B. bei Zurückweisung der Rüge konkret hinzuweisen ist.

Nach § 17 a Nr.1 VOL/A a.F. (§ 15 I EG VOL/A i. V. mit Ziffer VI. 4. 2. Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1564/2005 der Kommission vom 7. September 2005 zur Einführung von Standardformularen für die Veröffentlichung von Vergabebekanntmachungen im Rahmen von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge gemäß der Richtlinie 2004/17/EG und der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 257 vom 1. Oktober 2005) ist der Auftraggeber verpflichtet, genaue Angaben zu den von den Bietern zu beachtenden Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen zu machen oder eine Stelle zu benennen, bei der Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erhältlich sind (VI. 4. 4.).

Das klingt zunächst eindeutig danach, dass der Auftragnehmer entsprechend zu informieren ist bzw. ihm eine Auskunftsstelle mitgeteilt werden muss. Bis zum Jahr 2010 war diese Frage kaum Gegenstand der Diskussion. Ausgangspunkt bildete vielmehr eine Entscheidung des EuGH (Urt. v. 28.1.2010 – C 406/08 – Uniplex), in der es um eine unzulässige, weil unbestimmte Nachprüfungsfrist geht.

Sehr strittig ist die Frage, ob im EU-Verfahren z. B. bei Unterlassung der unverzüglichen Rüge nach Kenntnis oder nach Zurückweisung der Rüge die Fristen nach § 107 III Nr. 1 bzw. Nr. 4 GWB (15 Kalendertage für Antrag an Vergabekammer) eingreifen, wenn keine „Rechtsbehelfsbelehrung“ mit der Zurückweisung der Rüge erfolgt (vgl. Widerspruchsverfahren). Auch hier muss darauf hingewiesen werden, dass unterschiedliche Ansichten von Oberlandesgerichten vorliegen.

Das OLG Celle hat in seinem Beschluss vom 4. 3. 2010 (13 Verg 1/10) angenommen, dass die Ausschlussfrist nach § 107 III Nr. 4 GWB ohne Hinweise in der Bekanntmachung nicht zu laufen beginnt. Insoweit wird auf das Standardformular entsprechend Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1564/2005 hingewiesen, in dem unter Ziff. VI.4.2. Rechtsbehelfe und zuständige Stelle für Auskünfte einzutragen sind. Geschieht dies nicht und erfolgt auch mit Zurückweisung der Rüge kein Hinweis auf die Ausschlussfrist, so tritt die Präklusionswirkung des § 107 III GWB nicht ein, d.h. dass der Antrag an die Vergabekammer zulässig ist.

Anderer Ansicht ist das OLG Karlsruhe in seinem Beschluss vom 08.01.2010 (15 Verg 1/10). Hier ging es um ein Verfahren, in dem das Bekanntmachungsformular in den Feldern VI.4.2) und VI.4.3) keine Hinweise auf die Frist des § 107 III Nr. 4 GWB enthielt (so auch Vergabekammer Baden-Württemberg, Beschluss vom 4.1.2010 - 1 VK 74/09).

Wiederum anderer Ansicht ist das OLG Schleswig in seinem Beschluss vom 1.4.2010 (1 Verg 5/09) hinsichtlich der 30-Tagesfrist des § 101 b) II GWB, die nach Bekanntmachung des vergebenen Auftrags eingreift. Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1564/2005 enthält zwar entsprechende Spalten für die Angaben von Rechtsbehelfen. Die hier getroffene Frist ist jedoch wie die anderen Fristen ebenfalls eine Ausschlussfrist und keine Rechtsbehelfsfrist; danach ist keine Belehrung über Ausschlussfrist erforderlich.

Ferner ist die Entscheidung des OLG Dresden, Beschluss vom 7.5.2011 (Wverg 6/10), von Interesse. Dieses Gericht hält „unverzüglich“ aus § 107 II Nr. 1 GWB für hinreichend bestimmt und sieht somit keinen Verstoß gegen europäisches Vergaberecht. Insoweit wird auf Weyand, Rudolf, Vergaberecht, 3. Aufl., 2011, § 107 GWB Rdnrn. 3617 ff, m. w. Nachw. verwiesen). Als Konsequenz ist bis zu einer endgültigen Klärung durch BGH oder EuGH (oder den nationalen Gesetzgeber) das Standardformular für die Bekanntmachung in den Spalten VI.4.2. und VI.4.3. peinlich genau auszufüllen. Hierbei sollte vorsorglich unterstellt werden, dass es sich bei den Fristen 101 b) II und 107 III Nr. 1 und Nr. 4 GWB auch um Rechtsbehelfsfristen handeln könnte. Ob dies dann auch bei § 107 III Nr. 1 GWB mit Blick auf die Generalklausel „unverzüglich“ ausreicht, ist fraglich. Wenn § 107 Nr. 1 GWB gegen europäisches Recht verstößt, so ist die bisherige Rechtsprechung zur Unverzüglichkeit der Rüge irrelevant und § 107 III Nr. 1 GWB „bis zu einer Neuregelung nicht mehr anwendbar.“ (Vgl. hierzu Weyand, aaO, Rn. 3620). Die Entscheidung des EuGH, aaO, scheint dafür zu sprechen. Die Bieter erhalten jedenfalls in der Zeit bis zur Klärung dieser Fragen eine wesentlich stärkere Position im Überprüfungsverfahren.

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