Fatale Folgen bei „Umgehungsschätzungen“ und Aufteilungstricks

Das EU-Verfahren ist in vielfacher Hinsicht aufwändiger als das nationale Vergabeverfahren. Nicht nur die langen Angebotsfristen sind hinderlich. Auch die Förmlichkeit, das mögliche Überprüfungsverfahren, die technischen Spezifikationen und die vielfach anzutreffenden Gerichtsentscheidungen bringen viele zum Nachdenken, wie man um das EU-Verfahren herumkommen könnte. Das könnte fatale Folgen haben.

Dieser „Holzweg“ sollte nicht beschritten werden. Die Zeit, die für diese Überlegungen angestellt wird, sollte besser für eine entsprechende Dokumentation mit den erforderlichen Begründungen für die Maßnahmen des Vergabeverfahrens eingesetzt werden. In manchen Fällen werden allerdings diese „Schwellenwerthürden“ noch nicht einmal gesehen, obwohl ein ganzes Stadtparlament entsprechende Beschlüsse fasst.

So geschehen im hessischen Niedernhausen: Schätzung der Architektenleistungen auf 104.000 Euro für 2008, 89.000 Euro für 2009 und 70.000 Euro für 2010 geschätzt, zuzüglich im Jahr 2007 bereits abgerechneter Honorarkosten von ca. 10.000 Euro, also insgesamt auf ca. 275.000 €, sowie des Gesamtausgabebedarfs für die Sanierung von 3.100.000 Euro. Derselbe Architekt wurde jeweils Schritt für Schritt entsprechend den Leistungsphasen Nr. 1 (Grundlagenermittlung), Nr. 2 (Vorplanung) und Nr. 3 (Entwurfsplanung) etc. ohne EU-Vergabeverfahren beauftragt. Das führte zum Einschreiten der EU-Kommission, die den EuGH anrief, der in seiner Entscheidung vom 15.03.2012 (Aktenzeichen: C-574/10) die Aufteilung von Architektenleistungen als unzulässig ansieht und einen Verstoß gegen Vergaberecht annimmt.

Zu den Rechtsfolgen unzulässiger Schätzungen, Manipulationsschätzungen und Umgehungsversuchen liegt eine Reihe von Entscheidungen vor, die dazu angetan sind, die entsprechende vergaberechtswidrige Vorgehensweise zu unterlassen. Die Rechtsfolgen sind schwerwiegend und werden nachfolgend kurz dargestellt:

1. Unzulässiges nationales Verfahren bei Überschreiten der Schwellenwerte: Aufhebung – Frage der Rechtmäßigkeit (z.B. bei Unterlassen der erforderlichen Markt- und Preiserkundung etc.) – wichtiger Grund für die Aufhebung nach §§ 19, 20 EG VOL/A: offensichtliches Überschreiten des Schwellenwerts – mögliche Schadensersatzansprüche nach den §§ 280, 241 II, 311 II, 249 ff BGB (Erstattung des Aufwands für die Erstellung des Angebots?)

2. Bei Überschreiten der Schwellenwerte und Unterlassen des EU-Verfahrens: Rüge – Vergabekammer – Aufhebung – Zwang zu EU-Verfahren – Unwirksamkeit nach § 101b GWB – EU-Kommission/EuGH: fortwirkender Verstoß – Beseitigungspflicht – bei Manipulation (z.B. Aufteilung etc.) und Unterlassen des EU-Verfahrens: Rüge – Vergabekammer – Aufhebung – Zwang zu EU-Verfahren – Unwirksamkeit nach § 101b GWB – bei rechtswidriger Aufhebung und/oder unverändertem Zweitverfahren: Mögliche Schadensersatzansprüche des „Gewinners“ des Erstverfahrens (entgangener Gewinn) – keine Pflicht zum Zuschlag – nur Aufhebung – kein Zweitverfahren: Erstattung des Aufwands

Entscheidungen:

Aufteilung von Architektenleistungen unzulässig – EuGH, Urt. vom 15.03.2012 – C-574/10 – NZBau 2012, 311 = VergabeR 2012, 593 m. Anm. vom Schabel – Vertragsverletzung durch Aufteilung der Architektenleistungen trotz beschlossener Gesamtsanierung der Mehrzweckhalle – zur Entscheidung vgl. VOLaktuell 4/20012 – Anhang

Fortwirkender Verstoß – EuGH, Urt. vom 9.9.2004 – C-125/03 NZBau 2002, 563 – Vergabe von Müllentsorgung ohne öffentliche Aufträge – de-facto-Vergabe – Müllentsorgungsverträge ohne Einhaltung der ... vorgesehenen Bekanntmachungsvorschriften vergeben wurden – fortwirkender Verstoß – auch EuGH, Urt. vom 10.4.2003 – Rs. C-20/01 sowie 28/91 – NZBau 2003, 393 – Abwasservertrag Bockhorn ohne Ausschreibung und ohne Bekanntmachung – Verhandlungsverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung ohne Vorliegen der Voraussetzungen

Prognose – BGH, Urt. vom 5.11.2002 – X ZR 232/00 – NZBau 2003, 168 = VergabeR 2003, 163 –zust. Anm. vom Jasper, Ute/Pooth, Stefan – Ziegelsteinverblendung – falsche Kostenschätzung – Kostenschätzung als Prognose, „die aus nachträglicher Sicht unvollkommen sein kann.“ – nachträgliche Differenz zwischen Kostenschätzung und erheblich höherem günstigstem Bieterangebot nicht ausreichend für eine offensichtlich falsche Kostenschätzung des Architekten (§ 278 BGB) – „Eine Prognose ist notwendigerweise eine Schätzung. Eine genaue Kostenberechnung kann aus dem genannten Grund im vornherein nicht erfolgen. Möglich ist eine zeitnahe Aufstellung, die alle bereits bei ihrer Ausarbeitung erkennbaren Daten in einer der Materie angemessenen und methodisch vertretbaren Weise unter Berücksichtigung vorhersehbarer Kostenentwicklungen berücksichtigt...“

Basis der Schätzung – BayObLG, Beschl. vom 18.6.2002 – Verg 8/02 – VergabeR 2002, 657, m. Anm. vom Goede – Schlaflabor – Bedarfspositionen sind bei Schwellenwertschätzung mit zu berücksichtigen – Schwellenwertschätzung: Basis ist die pflichtgemäße und sorgfältige Prüfung der Marktlage.

Diese Fragen sind u. a. ausführlicher Gegenstand der Seminare „Nationale Vergabeverfahren nach VOL/A“ und „Eu-weite Vergabeverfahren nach VOL/A“ sowie „Rechtskontrolle von Vergabeverfahren“. Siehe auch www.vergabetip.de.

~1583