Überraschendes Urteil des OLG Düsseldorf

Wenn es zu einem Überprüfungsverfahren kommt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Punkte aufgegriffen werden, die keine Bewerber oder Bieter gerügt haben. Es besteht nämlich „die Gefahr“, dass die Vergabekammer oder das OLG sich nicht „auf das beschränkt, was die von den Beteiligten vorgebracht wird oder ihr sonst bekannt sein muss.“ (§ 110 I S. 2 GWB). Vielmehr können z. B. die Richter grundsätzlich vom Amtsermittlungsprinzip ausgehen (§ 110 I S. 1 GWB) – sie müssen dies zwar nicht zwingend anwenden, können aber „den Sachverhalt von Amts wegen erforschen“.

Sowohl in § 4 I S. 4 VOL/A wie auch in § 4 V EG VOL/A heißt es, dass die Laufzeit von Rahmenverträgen vier Jahre nicht überschreiten darf, „es sei denn, der Auftragsgegenstand oder andere besondere Umstände rechtfertigen eine Ausnahme. Schon vom Wortlaut der Bestimmungen ergibt sich („darf nicht“), dass nur eine längere Laufzeit vorgesehen werden kann, wenn der Auftraggeber seiner Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich des Ausnahmegegenstandes genügt.

Es mag Fälle geben, in denen mehr als vier Jahre nachvollziehbar erforderlich sind. Auch ist nicht anzunehmen, dass die Bewerber oder Bieter die längere Laufzeit rügen. Allerdings kann es z. B. zu anderen Rügen kommen, die andere Sachverhalte betreffen. Kommt es jedenfalls zu einem Überprüfungsverfahren nach den §§ 102 f GWB vor Vergabekammer und OLG, so ist der Auftraggeber nicht abgesichert. Es besteht nämlich „die Gefahr“, dass die Vergabekammer oder das OLG sich nicht „auf das beschränkt, was die von den Beteiligten vorgebracht wird oder ihr sonst bekannt sein muss.“ (§ 110 I S. 2 GWB). Vielmehr können z. B. die Richter grundsätzlich vom Amtsermittlungsprinzip ausgehen (§ 110 I S. 1 GWB) – sie müssen dies zwar nicht zwingend anwenden, können aber „den Sachverhalt von Amts wegen erforschen“. Es heißt ferner, dass sie zu einer „umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle“ nicht verpflichtet sind.

Wenn es also zu einem Überprüfungsverfahren kommt, kann jedenfalls niemals ausgeschlossen werden, dass auch Punkte aufgegriffen werden, die keine Bewerber oder Bieter gerügt hat. Das hat jedenfalls – vermutlich zur Überraschung der Beteiligten – das OLG Düsseldorf im Fall eines Rahmenvertrags angenommen, für den eine sechsjährige Laufzeit vorgesehen wurde. Dem OLG haben jedenfalls die Begründungen für die sechsjährige Laufzeit nicht ausgereicht. Vorsicht ist daher hier geboten. Der Wettbewerb soll und darf nicht grundlos durch mehr als vierjährige Laufzeiten beschränkt oder ausgeschlossen werden.

OLG Düsseldorf, Beschl. vom 11.04.2012 – Verg 95/12 – Filmproduktion – Rahmenvertrag – Laufzeit – Eignungskriterien – Aufgreifen der 6-jährigen Laufzeit durch OLG offensichtlich ohne Rüge – von Amts wegen (Amtsermittlungsgrundsatz) – § 4 I S. 4 VOL/A, § 4 VII EG VOL/A – Leitsätze:

1. Die Laufzeit einer Rahmenvereinbarung darf vier Jahre grundsätzlich nicht überschreiten.

2. Soll die Vertragslaufzeit länger als vier Jahre betragen, muss der Auftraggeber diesen eng zu begrenzenden Sonderfall „aufgrund des Gegenstands der Rahmenvereinbarung“ rechtfertigen, wobei der Auftragsgegenstand oder andere besondere Umstände herangezogen werden können. Gründe:

A. Die Antragsgegnerin schrieb mit EU-weiter Bekanntmachung vom 29.7.2011 im offenen Verfahren die Vergabe des „Rahmenvertrags Berufe.TV' aus, dessen Gegenstand die Produktion von berufskundlichen und anderen Filmen sowie die Bereitstellung der Filme im Internet, für mobile Geräte und zum Abruf in ihren Berufsinformationszentren ist. Im Jahr sollen 40 bis 50 Filme produziert werden. Optional sollen die Entwicklung von neuen Filmformaten und die Weiterentwicklung von Berufe.net erfolgen. Die Vertragslaufzeit soll 72 Monate ab Auftragsvergabe betragen.

B. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber unbegründet. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Hinsichtlich der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags wird auf die zutreffenden Ausführungen der Vergabekammer verwiesen. Der Nachprüfungsantrag ist schon deshalb begründet, weil die Antragsgegnerin eine zu lange Vertragslaufzeit vorgesehen und diese nicht hinreichend gerechtfertigt hat. Ausweislich 11.3) der EU-Bekanntmachung soll die Vertragslaufzeit 72 Monate ab dem Zeitpunkt der Auftragsvergabe betragen. Die Laufzeit einer Rahmenvereinbarung darf jedoch vier Jahre grundsätzlich nicht überschreiten (siehe: Art. 31 Abs. 2 UA 4 Richtlinie 2004/18/EG, siehe auch: § 4 Abs. 1 S. 4 VOL/A und § 4 Abs. 7 EG VOL/A). Die Regellaufzeit bezweckt, dass das geschlossene System der Rahmenvereinbarung die Auftragsvergabe nur für einen begrenzten Zeitraum dem Wettbewerb entzieht. Die Laufzeitbegrenzung ist daher unauflösbar mit der spezifischen Systematik der Rahmenvereinbarung verknüpft, welche einerseits Effizienzgewinne ermöglicht, andererseits aber wettbewerbsbeschränkend wirkt. Insoweit konkretisiert die Vorschrift den allgemeinen Wettbewerbsgrundsatz.

Soll die Vertragslaufzeit länger als vier Jahre betragen, muss der Auftraggeber diesen eng zu begrenzenden Sonderfall „aufgrund des Gegenstands der Rahmenvereinbarung“ rechtfertigen, wobei der Auftragsgegenstand oder andere besondere Umstände herangezogen werden können. Eine längere Dauer kann beispielsweise durch die Erforderlichkeit erheblicher Aufwendungen bei der Entwicklung des Vertragsgegenstandes gerechtfertigt werden, wenn dem Auftragnehmer mit Rücksicht darauf eine Amortisation zugestanden werden soll (siehe zum Ganzen: BayObLG, Beschluss vom 17.2.2005, Verg27/04 „integrierte Leitstelle“; Zeise in Kulartz u.a., VOL/A, 2. A., § 4 VOL/A, Rdnr. 29 m.w.N., § 4 EG VOL/A, Rdnr. 57 m.w.N.; Ziekow in Ziekow/Nöllink, Vergaberecht, § 29 GWB, Rdnr. 23). Obwohl für die Rechtfertigung einer längeren Vertragsdauer prognostische Beurteilungen bedeutsam sein können, ist dem Auftraggeber kein – nur auf die Einhaltung seiner Grenzen – kontrollierbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt, so dass die Rechtfertigung einer längeren als vierjährigen Vertragsdauer im Nachprüfungsverfahren in vollem Umfang überprüft werden kann. Die Überprüfung erfolgt anhand der Gründe, die der Auftraggeber im Vergabevermerk nachvollziehbar zu dokumentieren hat (siehe auch: Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 20041181EG a.E.).

Gemessen daran reicht die schmale Begründung der Antragsgegnerin in der Bedarfsanforderung vom 17.6.2011 und der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nicht aus, um die die vierjährige Regellaufzeit um 50 % übersteigende Vertragsdauer zu rechtfertigen. Es ist zwar zutreffend, dass eine längere Vertragsdauer die Fixkosten des Auftragnehmers reduziert und diesem ein wirtschaftlicheres Angebot ermöglicht. Dieser Umstand – der bei jeder Vergabe festzustellen sein dürfte – reicht im Streitfall aber nicht aus, um die Abweichung von der Regellaufzeit und eine daraus folgende Wettbewerbseinschränkung, die möglicherweise zu weniger und höherpreisigen Angeboten führt, zu rechtfertigen.

Auch die Begründung, in der Startphase und durch den Auftragnehmerwechsel seien erhebliche Investitionen notwendig, ist letztlich nicht ausreichend und überzeugend. Dies zeigt unter anderem das Angebot der Antragstellerin, die für das so genannte Übergabemanagement lediglich Kosten in Höhe von 20.000 Euro angesetzt hat, die im Verhältnis zur Bruttoauftragssumme vernachlässigenswert niedrig sind. Die Antragsgegnerin wird, sofern die Vergabeabsicht fortbesteht, die vorstehenden Ausführungen bei der erforderlichen neuen EU-Bekanntmachung der Ausschreibung zu berücksichtigen haben. ….

Diese Fragen sind ausführlicher Gegenstand des Seminars „Nationale Vergabe nach VOL/A“, EU-weite Vergabe nach VOL/A“ und „Rechtskontrolle von Vergabeverfahren“ – vgl. www.vergabetip.de.

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