Der unverständliche Neuerungswahn

In den Jahren 2011 und 2012 sind mehrere neue Bestimmungen sind in Kraft getreten (VgV, SektVO und VSVgV, VOB/A etc.). Das Vergaberecht wird damit nicht einfacher. Oberlandesgerichte haben es da mit Blick auf den Zeitaspekt noch verhältnismäßig gut: Bis zu ihren Entscheidungen sind die neuen Bestimmungen meistens schon einige Zeit anzuwenden. Dann liegen vielfach auch erste Veröffentlichungen vor. Der Praktiker an der Basis hat es da schwerer, da die Reformen in der Regel am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt anzuwenden sind.

Über die Rechtszersplitterung durch Vorschriften der Länder kann der Praktiker nur den Kopf schütteln. Nahezu jedes Bundesland „bastelt“ an eigenen vergaberechtlichen Vorschriften, soweit es um die Beschaffung unterhalb der Schwellenwerte (200.000 € netto, 5.000.000 € für Bauaufträge) geht. In Thüringen kann der Bieter vor dem Zuschlag ein Nachprüfungsverfahren beantragen – in den meisten übrigen Bundesländern ist er auf den teureren, komplizierten und riskanteren Rechtsschutz durch einstweilige Verfügung angewiesen. Von Mittelstandsberücksichtigung kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein.

Der Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte nimmt klarere Konturen an bzw. ist landesrechtlich geregelt (Thüringer Vergabegesetz). Für die Bewerber und Bieter ist die Rechtslage indes nicht befriedigend. Die öffentliche Hand befürchtet erhöhte Probleme durch einen Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte. Das darf durchaus bezweifelt werden. Jedenfalls zeigt die Praxis in Sachsen und Thüringen keine „Verfahrensflut“.

Andererseits ist es nicht nachzuvollziehen, dass in anderen Bundesländern nur die teurere und aufwändigere einstweilige Verfügung vor dem Zuschlag zur Verfügung steht. Im Übrigen muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Rechtsschutz vor dem Zuschlag für den öffentlichen Auftraggeber auch vorteilhaft sein kann; denn den benachteiligten Bewerbern und Bietern stehen auf jeden Fall Schadensersatzansprüche nach den §§ 241 II, 311 II, III, 249 f BGB zu. Zwar muss auch in EU-Verfahren der benachteiligte Bieter nach Rüge etc. nicht die Vergabekammer anrufen, sondern kann sogleich Schadensersatz gerichtlich geltend machen. Der Bieter wird aber auch hier sein Recht in dem „billigeren“ Nachprüfungsverfahren suchen. Das hat zwar den Nachteil, dass sich der Zuschlag verzögert, aber möglicherweise besteht ein Vorteil darin, dass Vergabeverstöße durch Zurückversetzung des Vergabeverfahrens beseitigt werden können.

BGH, Urt. v. 30.8.2011 – X ZR 55/10 – NZBau 2012, 46 = VergabeR 2012, 26 – Regenentlastung – Rechtsschutz – grenzüberschreitendes Interesse –
OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.10.2011 – I-27 W 1/11 – VergabeR 2012, 669, m. Anm. v. Christ, Matthias – Trockenbauarbeiten – Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte
OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.06.2012 – 1 U 357/11-107 – NZBau 2012, 654 – Lichtsignalanlagen – Primärrechtsschutz im Unterschwellenbereich im Wege der einstweiligen Verfügung vor den Zivilgerichten nicht nur bei Willkür – grundsätzliche Ansprüche aus §§ 311 II, 241 II BGB i. V. m. § 1004 I BGB analog – nicht nur Schadensersatzansprüche, sondern auch Unterlassungsansprüche bei einem drohenden Vergabeverstoß, Schadensersatzansprüche hier nicht ausreichend – Aufhebung der einstweiligen Verfügung (kein Ausschluss des Angebots des Konkurrenten)
LG München I, Urt. v. 15.5.2012 – 11 O 7897/12 – VergabeR 2012, 793, m. Anm. v. Donhauser, Christoph/Reinhardt, Anja – unterschwelliger Rechtsschutz im Zivilverfahren (Einstweilige Verfügung). – Rechtsschutz unterhalb der Auftragswerte.

Amtliche Leitsätze:

1. Aus Art. 3 GG folgt, dass auch im unterschwelligen Vergabewesen ein effektiver Schutz des Bieters zu gewährleisten ist.

2. Bieter müssen nicht vor jeder Fehlentscheidung staatlicher Stellen geschützt werden, jedenfalls aber vor Verfahrensfehlern, die ein solches Gewicht haben, dass sie unter dem Gleichbehandlungsgebot nicht mehr hinnehmbar sind. Dies kann hier dadurch der Fall sein, dass zum Einen die Vergabestelle ohne sachlichen Grund von einer früheren Praxis abweicht und zum Anderen die Verfügungsklägerin keine echte, faire Chance hatte, weil lediglich ein bereits aufgeklärtes Missverständnis vorliegt.
Deling, Jasmin, Kriterien der „Binnenmarktrelevanz“ und ihre Konsequenzen unterhalb der Schwellenwerte, Teil II, NZBau 2012, 17

Deling, Jasmin, Kriterien der „Binnenmarktrelevanz“ und ihre Konsequenzen unterhalb der Schwellenwerte Teil I, NZBau 2012, 725

Dicks, Heinz-Peters, Nochmals: Primärrechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte, VergabeR 2012, 531

Emme, Nora/Schrotz, Jan-Oliver, Mehr Rechtsschutz bei Vergaben außerhalb des Kartellvergaberechts, NZBau 2012, 216 – vgl. BGH, Urt. v. 30.8.2011 – X ZR 55/10 – NZBau 2012, 46 – Regenentlastung

Hausmann, Hans-Christian, Systematik und Rechtsschutz des Vergaberechts, GewArch 2012, 107
Müller-Wrede, Malte, Kausalität des Vergabeverstoßes als Voraussetzung für Rechtsschutz, NZBau 2011, 651

Schabel, Thomas, Vergaberechtskontrolle außerhalb der Nachprüfung nach §§ 102 ff. GWB, VergabeR 2012, 333

Wiesinger, Christoph, Vergaberechtsschutz durch die neuen Verwaltungsgerichte, ZVB 2012, 137

 

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