EuGH-Entscheidung steht noch aus - demnächst zu erwarten
Der Landesmindestlohn in Rheinland Pfalz ist weder vergaberechts- noch EU-rechtswidrig sondern rechtmäßig. Das meint jedenfalls die Vergabekammer Rheinland-Pfalz. Der Fall liegt nun als Beschwerde beim OLG Koblenz, das wiederum eine Entscheidung des EuGH abwartet.
Vergabekammer Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 23.02.2015 - VK 1 - 39/14 – Postdienstleistungen – Mindestlohn (2. Beschluss) - Interimsvergabe (Zuständigkeit der Vergabekammer – Gesamtauftragswert einschließlich Interimswert) – Aussetzung nach 1. Beschluss und Beschwerde durch OLG Koblenz und Vorlage an EuGH noch nicht entschieden – keine offenkundige Unionswidrigkeit – Bundesmindestlohngesetz mit „allgemeiner Regelung“ des Mindestlohns (8,50 €) – keine Schranke für Landesmindestlohn das Landestariftreuegesetz (LTTG RLP – 8,90 €) - §§ 3 I, 4 II LTTG RLP, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG – amtliche Leitsätze: 1. Ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH führt grundsätzlich nicht zur Nichtanwendbarkeit der vom vorlegenden Gericht als unionsrechtswidrig eingestuften gesetzlichen Regelung. Es gilt die Entscheidung des EuGH abzuwarten, es sei denn, es handelt es sich um einen Fall offenkundiger Unionsrechtswidrigkeit. 2. Das Mindestlohngesetz des Bundes (MiLoG) regelt nur einen allgemeinen Mindestlohn, der „mindestens" zu zahlen ist. In Landesvergabegesetzen können „bessere" Mindestentgelte verbindlich festgesetzt werden. Der Bund hat in der Frage der Entgelthöhe nicht abschließend und erschöpfend von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. 3. In Rheinland-Pfalz sind bei öffentlichen Aufträgen nach den Vorgaben der Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 Abs. 2 Satz 3 LTTG vom 28. April 2014 bei der Auftragsausführung 8,90 € zu zahlen.
Vergabekammer Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 23.02.2015 - VK 1 - 39/14 – Postdienstleistungen Beschluss
In dem Nachprüfungsverfahren wegen der Vergabe des Auftrags
„Postdienstleistungen für die Stadt L. für den Interimszeitraum vom 01.03.2015 bis 30.11.2015"
pp.
hat die 1. Vergabekammer Rheinland-Pfalz ... am 23. Februar 2015 beschlossen:
1. Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Nachprüfungsverfahrens (Gebühren und Auslagen) einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin.
3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin war notwendig.
Gründe:
I.
Die Antragsgegnerin schrieb bereits am 23. April 2013 den Auftrag „Postdienstleistungen für die Stadt L." für den Zeitraum vom 01. November 2013 bis zum 31. Oktober 2015 europaweit im Offenen Verfahren aus. Es war für die Antragsgegnerin die Möglichkeit vorgesehen, die Vertragslaufzeit durch einseitige Erklärung zweimal um jeweils ein Jahr zu verlängern. Die ausgeschriebenen Leistungen umfassten die Abholung, Beförderung und Zustellung von Briefen, Päckchen und Paketen. Die Gesamtleistung war in zwei Lose aufgeteilt (Los 1: nichtförmliche Zustellung; Los 2: förmliche Zustellung).
Die Antragstellerin wandte sich bei dieser Ausschreibung gegen die Vorgabe in den Vergabeunterlagen, dass die Bestimmungen des Landesgesetzes zur Schaffung tariftreuerechtlicher Regelungen des Landes Rheinland-Pfalz (LTTG) vom 01. Dezember 2010 einzuhalten seien. Nachdem die Antragstellerin mit ihrem Nachprüfungsantrag vor der Vergabekammer nicht erfolgreich war (Beschl. v. 23.10.2013, VK 2-18/13), legte sie gegen die Entscheidung sofortige Beschwerde beim OLG Koblenz ein. Das Verfahren wurde dort aufgrund eines vom Vergabesenat veranlassten Vorabentscheidungsersuchen (EuGH, Rs. C-115/14) mit Beschluss vom 19. Februar 2014 (1 Verg 8/13) bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt. Das OLG Koblenz hat den Gerichtshof um Auslegung ersucht, ob das Unionsrecht landesrechtlichen Regelungen zum vergabespezifischen Mindestentgelt und deren Ausgestaltung entgegenstehe. Der EuGH hat bislang noch nicht über die Vorlagefragen des OLG Koblenz entschieden.
Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz verpflichtete im Nachgang alle öffentlichen Auftraggeber per Rundschreiben vom 20. März 2014 und 17. November 2014 das LTTG auch weiterhin anzuwenden.
Das LTTG enthält folgende für die Entscheidung im vorliegenden Fall relevante Bestimmungen:
§ 3 Abs. 1 LTTG:
„Soweit nicht nach § 4 Tariftreue gefordert werden kann, dürfen öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigen bei der Ausführung der Leistungen ein Entgelt von mindestens 8,50 Euro (brutto) pro Stunde zu zahlen (Mindestentgelt) und Änderungen des Mindestentgelts aufgrund Rechtsverordnung der Landesregierung nach Absatz 2 während der Ausführungslaufzeit gegenüber den Beschäftigten nachzuvollziehen. Satz 1 gilt nicht für die Leistungserbringung durch Auszubildende. Fehlt die Mindestentgelterklärung bei Angebotsabgabe und wird sie auch nach Aufforderung nicht vorgelegt, so ist das Angebot von der Wertung auszuschließen. Hat die Servicestelle nach § 4 Abs. 5 Muster zur Abgabe von Mindestentgelterklärungen öffentlich bekannt gemacht, können diese verwendet werden."
§ 4 Abs. 2 LTTG:
„Öffentliche Aufträge, die vom Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 802-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. April 2009 (BGBl. I S. 818), in der jeweils geltenden Fassung erfasst werden, dürfen nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung ein Entgelt zu zahlen, das in Höhe und Modalitäten mindestens den Vorgaben der aufgrund von § 4 Abs. 3 MiArbG erlassenen Rechtsverordnung entspricht, an die das Unternehmen aufgrund des Mindestarbeitsbedingungengesetzes gebunden ist."
Die Antragsgegnerin möchte jetzt — bis zur abschließenden OLG-Entscheidung im Hauptverfahren - ihren Interimsbedarf für den Zeitraum vom 01. März 2015 bis zum 30. November 2015 im Wege einer öffentlichen Ausschreibung decken. Der ausgeschriebene Leistungsumfang betrifft die „Abholung, Sortierung, Frankierung, Beförderung und Zustellung von Briefen aller Formate einschließlich nachweispflichtiger Sendungen (Einschreiben) und von Päckchen und Paketen sowie die Zuordnung zu Kostenstellen. Zudem gehören zur Leistungspflicht die Bereitstellung von Transportbehältnissen und eine Adressrecherche."
In den Vergabeunterlagen ist als Anlage E 6 — wie bereits im Ausgangsverfahren - eine „Mustererklärung nach § 3 Abs. 1 LTTG" zur Zahlung des Mindestentgeltes enthalten, die der Bieter zu unterzeichnen hat. Der Vordruck enthält u. a. folgende Verpflichtungserklärung:
„Ich/Wir verpflichte/n mich/uns hiermit:
1. den Beschäftigten bei der Ausführung der Leistung mindestens das nach der jeweils gültigen Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 Abs. 2 Satz 3 des Landestariftreuegesetzes zu zahlende Entgelt (brutto) pro Stunde zu zahlen und Änderungen des Mindestentgelts aufgrund Rechtsverordnung der Landesregierung nach § 3 Abs. 2 Satz 3 LTTG während der Ausführungslaufzeit gegenüber den Beschäftigten nachzuvollziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 LTTG). Dies gilt nicht für eine Leistungserbringung durch Auszubildende. (…)."
Der Mindestlohn nach LTTG liegt nach den Vorgaben der Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 Abs. 2 Satz 3 LTTG vom 28. April 2014 aktuell bei 8,90 €. Es gilt zudem das Bundesgesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz — MiLoG), das am 16. August 2014 im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz, TarifAutStG) in Kraft getreten ist. Ziel des MiLoG ist es, einer zunehmenden Verbreitung von unangemessen niedrigen Löhnen entgegenzuwirken (BT-Drucks. 17/1558, S. 2). Das Gesetz sieht — abgesehen von Ausnahmeregelungen — einen Mindestlohnanspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor. Gemäß § 1 Abs. 2 MiLoG beträgt die Höhe des Mindestlohns ab dem 01. Januar 2015 brutto 8,50 € je Arbeitszeitstunde.
Die Antragstellerin, deren Geschäftsbetrieb auf die Erbringung von Postdienstleistungen ausgerichtet ist, hat die streitgegenständlichen Dienstleistungen in den vergangenen Jahren für die Antragsgegnerin erbracht. Sie sieht sich an der Abgabe eines Angebots für die Interimsvergabe wegen der geforderten Abgabe einer Verpflichtungserklärung nach § 3 Abs. 1 LTTG gehindert.
Nachdem die Antragsgegnerin mittels Rügeschreiben vom 25. November 2014 erfolglos versucht hatte, die Antragsgegnerin zur Aufgabe der Forderung zu veranlassen, reichte sie mit Schriftsatz vom 08. Dezember 2014 einen Nachprüfungsantrag bei der erkennenden Vergabekammer ein. Der Nachprüfungsantrag wurde der Antragsgegnerin am 09. Dezember 2014 zugestellt.
Die Antragstellerin hat schließlich im Vergabeverfahren zum Submissionstermin am 09. Dezember 2014 kein Angebot unterbreitet.
Die Antragstellerin ist der Auffassung, die Vergabestelle sei nicht berechtigt, die Abgabe einer Verpflichtungserklärung nach § 3 LTTG zu fordern. Da der vorliegende Auftrag den Leistungszeitraum vom 01. März bis 30. November 2015 betreffe, sei allein das am 16. August 2014 in Kraft getretene MiLoG maßgeblich, das ein abschließendes Verfahrensszenario enthalte und die landesrechtlichen Regelungen gemäß Artikel 31 GG verdränge. In § 4 Abs. 2 LTTG sei auch ein Vorrang von Anordnungen nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz (MiArbG) als bundesgesetzliche und damit konkurrierend vorrangige Regelung normiert. Der Bundesgesetzgeber habe mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz das MiArbG aufgehoben und das Mindestlohngesetz mit Wirkung zum 01. Januar 2015 verabschiedet.
In § 19 MiLoG sei außerdem geregelt, unter welchen Bedingungen ein Verfahrensausschluss wegen fehlender Gesetzestreue zu erfolgen habe. Ein solcher Ausschluss sei daran geknüpft, dass gegen einen Bieter rechtskräftig eine Verletzung seiner Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohns gemäß § 21 MiLoG mit einem Bußgeldbescheid in Höhe eines Bußgeldes von mindestens 2.500 € festgestellt worden sei. Diese Regelung verdränge ebenfalls landesgesetzliche Regelungen, mit denen über die Forderung nach einer gesonderten Verpflichtungserklärung der Wille oder die Bereitschaft zur Gesetzestreue abgefragt werde.
Die Antragstellerin weist darauf hin, dass im Bereich der Postdienstleistungen keine auftragsspezifische Vergütung der Mitarbeiter erfolge, sondern die Sendungsmengen aller Auftraggeber, also sowohl der privaten als auch der öffentlichen Versender, zu einer Gesamtmenge zusammengefasst und dann zugestellt werden würden. Die Mitarbeiter erhielten eine einheitliche Entlohnung für ihre gesamte Zustellleistung.
Die Antragstellerin bekräftigt, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Basis des Mindestlohns nach MiLoG zu entgelten. Sie lege bei der Kalkulation ihrer Angebote einen Maßstab ab, bei dem die bei ihr tätigen Mitarbeiter durchschnittlich, nach Umrechnung der Stückentgelte in das Zeitäquivalent, eine Vergütung von 9,00 € erhielten. Der kalkulatorische Durchschnittswert sei dabei so gewählt, dass die Mitarbeiter auch noch bei unvorhergesehenen Vorkommnissen nicht unter das gesetzlich vorgesehene Mindestlohnniveau „abrutschten". Es bestehe ein ausreichender Toleranzspielraum zum Mindestlohn des MiLoG. Ein arbeitsvertraglicher Rechtsanspruch auf Zahlung eines Mindeststundenlohnsatzes von 8,90 € bewertet sie jedoch als unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit nach Artikel 12 GG.
Die Antragstellerin betont weiterhin, ihr Kalkulationsschema so ausgerichtet zu haben, dass vorsorglich auch die Lohnhöhe nach § 3 LTTG erreicht werde. Es bestünde allenfalls das Risiko, dass Mitarbeiter, die nicht in der Lage seien, ihre Leistung im Sinne des Durchschnittswertes zu erbringen, unter die Lohnvorstellung von 8,90 € „abrutschen" könnten. Dies könne ggf. mit einem temporären Zuschlag ausgeglichen werden.
Die Antragstellerin stellt den Antrag:
Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, in dem Verfahren Postdienstleistungen Nr. XXX von dem Verlangen in den Vergabeunterlagen Abstand zu nehmen, die als Anlage E6 beigefügte Verpflichtungserklärung durch die Bieter beibringen zu lassen.
hilfsweise: geeignete Maßnahmen zur Verhinderung einer Rechtsverletzung der Antragstellerin zu treffen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin gemäß § 128 Abs. 4 GBW wird für notwendig erklärt.
Die Antragstellerin beantragt ferner,
die sofortige Anordnung der Vergabekammer, den Abgabetermin aufzuheben und die Abgabe von Angeboten für die Zeit nach Abschluss dieses Nachprüfungsverfahrens offen zu halten.
Die Antragsgegnerin beantragt:
1. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin vom 08. Dezember 2014 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin wird für notwendig erklärt.
Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig, weil der streitgegenständliche Auftragswert, den sie auf ca. 98.000 € veranschlagt, unter dem EU-Schwellenwert liege und es an der Zuständigkeit der Vergabekammer fehle. Der Interimsauftrag ersetze nicht den Beschaffungsbedarf der europaweiten Ausschreibung, sondern solle nur die Lücke zur Aufrechterhaltung des laufenden Verwaltungsbetriebs decken. Die Leistungsumfänge seien auch nicht wirtschaftlich und technisch gleichwertig bzw. identisch. Der Interimsauftrag beziehe sich im Gegensatz zur ursprünglichen europaweiten Ausschreibung auch nur auf die Briefpost; die damalige Ausschreibung habe außer der Briefpost auch die förmlichen Zustellungen erfasst.
Der Antragstellerin fehle ferner die Antragsbefugnis nach § 107 Abs. 2 Satz 2 GWB. Die Antragstellerin habe selber in ihrem Nachprüfungsantrag mitgeteilt, dass sie ihren Angestellten einen Stundenlohn von 9,00 € zahle. Ihr drohe daher durch die Forderung nach Zahlung des LTTG-Mindestlohns kein Schaden.
Darüber hinaus hält die Antragsgegnerin den Nachprüfungsantrag auch für unbegründet. § 4 Abs. 2 LTTG sei entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht anwendbar, da der Verweis auf das MiArbG nicht in einen Verweis auf das MiLoG umgewandelt werden könne. Das MiArbG sei außer Kraft gesetzt worden. Der Gesetzeswortlaut könne nicht abgeändert werden.
Das LTTG sei ein formell und materiell wirksames Gesetz und sie sei verpflichtet, es anzuwenden. Die parallele Existenz sowohl des MiLoG als auch der verschiedenen Landestariftreuegesetze sei politisch gewollt und gesetzessystematisch korrekt. Der Bund beziehe sich bei seinen Mindestlohnregelungen auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das „Arbeitsrecht` nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Das MiLoG habe keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Anwendbarkeit des LTTG, bei dem es um das „Recht der Wirtschaft" nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gehe. Es entfalte insbesondere keine Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber nach Artikel 72 Abs. 1 GG.
Die Verfahrensbeteiligten haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 112 Abs. 1 Satz 3 GWB zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Vergabeakten, die der Vergabekammer vorgelegen haben, sowie auf die zwischen den Beteiligten im Verfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
Die Antragstellerin ist mit ihrem Nachprüfungsantrag nicht erfolgreich.
1. Die angerufene Vergabekammer ist für die Entscheidung über den Nachprüfungsantrag gemäß §§ 104 Abs. 1, 106 a GWB zuständig, da der ausgeschriebene Auftrag dem Land Rheinland-Pfalz zuzurechnen ist. Bei der Antragsgegnerin handelt es sich um einen öffentlichen Auftraggeber nach § 98 Nr. 1 GWB.
2. Der in §§ 100 Abs. 1, 127 GWB in Verbindung mit § 2 Nr. 1 VgV geltende EU-Schwellenwert in Höhe von 207.000,00 € wird überschritten. Dass die Antragsgegnerin den Schwellenwert für die streitgegenständliche Interimsvergabe mit einem Betrag von ca. 98.000 € angesetzt hat, führt nicht zur Versagung der Zuständigkeit der Vergabekammer. Der Gesamtbeschaffungsbedarf an Postdienstleistungen ist vorliegend in zwei selbständige Vergaben, die Interimsvergabe und die Hauptvergabe, unterteilt. Es handelt sich um fortlaufend notwendige Beschaffungen der Antragsgegnerin, sodass von einem einheitlichen Auftrag mit gleichartigen Leistungen auszugehen ist.Wird der Gesamtbeschaffungsbedarf in mehrere selbständige Vergaben unterteilt, so ist für die Schätzung des Auftragswertes der Wert des Gesamtprojektes zugrunde zu legen (OLG München, Beschl. v. 31.01.2013, Verg 31/12; VK Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 23.10.2013, VK 1-7/14). Dieser Ansatz entspricht auch der Zielsetzung von § 3 Abs. 7 VgV, wonach bei einer Aufteilung einer Beschaffung in mehrere Lose, der Wert aller Lose zusammenzurechnen ist. Die gewählte Form der Interimsvergabe kommt im Ansatz der Bildung eines Loses nahe.
Die ggf. analoge Nutzung des 20%-Kontingents nach § 3 Abs. 7 Satz 5 VgV, die den Auftraggeber in die Lage versetzt, einen Teil lediglich innerstaatlich auszuschreiben und diesen Teil auch einer Überprüfung durch die vergaberechtlichen Spruchkörper zu entziehen, kann zugunsten der Antragsgegnerin schon deshalb keine Anwendung finden, weil der Dienstleistungsauftrag mit einem geschätzten Auftragsvolumen in Höhe von 98.000 € eindeutig über der im Rahmen der Bagatellklausel geforderten Auftragssumme von 80.000 € liegt.
3. Die Antragstellerin hat ihre Rüge, die Antragsgegnerin sei nicht berechtigt, von den Bietern eine Mindestlohnerklärung nach § 3 LTTG zu verlangen, gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB rechtzeitig gegenüber dem Auftraggeber erhoben. Nach dieser Vorschrift sind Verstöße, die aus den Vergabeunterlagen erkennbar sind, spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Angebotsabgabe zu rügen. Ausweislich der Vergabeunterlagen war als Schlusstermin für den Eingang der Angebote der 09. Dezember 2014 benannt. Die Antragstellerin hat mit anwaltlichem Schriftsatz vom 01. Dezember 2014 die Forderung nach einer Mindestlohnerklärung nach § 3 LTTG fristgerecht gerügt.
4. Die Vergabekammer hat in Bezug auf die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags jedoch erhebliche Bedenken, ob die Antragstellerin in Anbetracht der unterlassenen Angebotsabgabe ihrer Schadensdarlegungslast im Sinne des § 107 Abs. 2 GWB hinreichend entsprochen hat. Antragsbefugt ist gemäß § 107 Abs. 2 GWB ein Unternehmen, das ein Interesse an dem Auftrag hat und eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Dabei ist darzulegen, dass dem Unternehmen durch die behauptete Verletzung der Vergabevorschriften ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Die Antragsbefugnis ist grundsätzlich zu verneinen, wenn eine Antragstellerin ohne hinreichenden Grund von der Abgabe eines Angebots abgesehen hat. Denn im Normalfall begibt sich das Unternehmen dann damit selbst von vornherein jeder Chance, den ausgeschriebenen Auftrag zu erhalten (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 25.05.2000, 1 Verg 1/00; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.01.2009, VII-Verg 59/08). Eine Antragsbefugnis trotz unterlassener Angebotsabgabe kann allerdings ausnahmsweise dennoch zugestanden werden, wenn der Unternehmer gerade durch den gerügten Vergaberechtsverstoß an der Abgabe eines Angebots gehindert worden ist (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.). In diesen Fällen kann es genügen, dass ein Unternehmen die Angebotsunterlagen angefordert hat und durch Stellung eines Nachprüfungsantrages dokumentiert, dass ihm an einem vergaberechtskonformen Fortgang des Vergabeverfahrens unter seiner Beteiligung gelegen ist.
Es erscheint vorliegend im Lichte der vorstehenden Erwägungen durchaus möglich, dass die Antragstellerin trotz der Forderung nach Abgabe einer Tariftreueerklärung gleichwohl in der Lage gewesen wäre, ein Angebot zu unterbreiten. Insoweit bleiben zwei Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen hat die Antragstellerin im Nachprüfungsverfahren selber erklärt, dass sie ihren Beschäftigten ein durchschnittliches Entgelt in Höhe von 9,00 € - und damit über dem rheinland-pfälzischen Mindestlohn von 8,90 € liegend - zahlt und ein „Abrutschen" unter den Landestarif im Einzelfall durch einen entsprechenden Zuschuss kompensiert werden könnte. Eine Angebotskalkulation und —abgabe auf der Basis dieser Parameter wäre aus Sicht der Vergabekammer für die Antragstellerin ohne weiteres realisierbar und auch zumutbar gewesen. Zum anderen hat die Antragstellerin im Rahmen der damaligen Hauptausschreibung, bei der ebenfalls Tariftreue nach rheinland-pfälzischem Landesrecht gefordert war, tatsächlich ein Angebot abgegeben, was die Frage aufwirft, ob das Verhalten der Antragstellerin bei der aktuellen Ausschreibung nicht als widersprüchlich einzustufen ist. Die Frage der Antragsbefugnis bedarf jedoch letztendlich keiner abschließenden Entscheidung und kann dahingestellt bleiben, weil der Nachprüfungsantrag im Übrigen in jedem Fall unbegründet ist und der Antragstellerin nicht zum Erfolg verhilft.
5. Der Nachprüfungsantrag ist unbegründet, weil die Antragsgegnerin vergaberechts-gemäß die Abgabe einer Tariftreueerklärung nach § 3 LTTG fordern durfte und die rheinland-pfälzische Tariftreueregelung nicht durch die Regelungen im MiLoG verdrängt wird. Die Antragstellerin ist nicht in ihren Rechten aus § 97 Abs. 7 G1/VB verletzt.
6. Die Vergabekammer hat bereits in ihrem Beschluss vom 23. Oktober 2013, VK 218/13, entschieden, dass die Antragsgegnerin die in Anlage E 6 der Vergabeunterlagen enthaltene Erklärung, den Beschäftigten bei Ausführung der Leistung mindestens das nach der jeweils gültigen Landesverordnung zur Festsetzung des Mindestentgelts nach § 3 LTTG zu zahlende Entgelt pro Stunde zu zahlen, als zusätzliche Bedingung der Auftragsausführung fordern durfte. Auf die dortigen Entscheidungsgründe wird vollumfänglich Bezug genommen.
7. Die Tatsache, dass das OLG Koblenz in seinem Vorlagebeschluss vom 19. Februar 2014 (1 Verg 8/13) „erhebliche Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 3 Abs. 1 LTTG mit dem Unionsrecht" geäußert hat, führt zu keiner anderen Betrachtung. Bei dem LTTG handelt es sich nach wie vor um geltendes Recht. Eine Unionsrechtswidrigkeit der Mindestentgeltforderung ergibt sich bislang aus der Rechtsprechung des EuGH nicht. Eine Entscheidung in dem vom OLG Koblenz angestrengten Vorabentscheidungsverfahren ist bisher noch nicht ergangen.
8. Eine Normverwerfungspflicht für den Fall, dass innerstaatliche Normen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, trifft zwar alle Träger der Verwaltung, auch die Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften (vgl. EuGH, Urt. v. 22.06.1989, Rs. C-103/88, Rn. 30). Die nationalen Verwaltungsbehörden haben jedoch aus Gründen der Rechtssicherheit und drohender Staatshaftung nur in Fällen offenkundiger Unionsrechtswidrigkeit das nationale Recht unangewendet zu lassen (Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, S. 55, Rn. 163 f., m.w.N.). Die Rechtssicherheit gebietet, dass nicht jeder mögliche Verstoß gegen Unionsrecht zur Nichtanwendung der betreffenden nationalen Rechtsnorm führt. Es bestünde in diesem Fall die Gefahr unterschiedlicher Einschätzungen und divergierender Anwendungen innerstaatlicher Normen (vgl. a.a.0). Vorliegend sind keinerlei Anhaltspunkte für einen Fall „offenkundige( Unionsrechtswidrigkeit gegeben, sodass bei der Antragsgegnerin auf kein Normverwerfungsrecht bzw. auf keine Normverwerfungspflicht abgestellt werden kann. Eine Offenkundigkeit ergibt sich in diesem Zusammenhang auch nicht aus der Entscheidung des EuGH vom 18. September 2014 (Rs. C-549/13), weil diese einen offensichtlich anderen Sachverhalt, nämlich die Beteiligung eines Subunternehmers aus Polen, und damit einen grenzüberschreitenden Sachverhalt betrifft und nicht wie hier einen rein innerstaatlichen Vorgang. Die Antragsgegnerin ist daher zwingend zur Anwendung des § 3 LTTG verpflichtet.
9. Entgegen dem Vortrag der Antragstellerin scheitert die Anwendung von § 3 Abs. 1 LTTG weiter auch nicht daran, dass über die Anwendung von § 4 Abs. 2 LTTG die allgemeine landesspezifische Regelung durch die Mindestentgeltregelung nach dem MiLoG verdrängt wird.
Der Landesgesetzgeber hat eine Geltung der allgemeinen Mindestlohnvorschrift für die Fälle ausgeschlossen, in denen die Voraussetzungen des § 4 LTTG vorliegen. Nach dem Wortlaut des § 3 LTTG („soweit nicht nach § 4 Tariftreue verlangt werden kann") besteht die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestlohnes immer dann, wenn die Voraussetzungen von § 4 LTTG nicht erfüllt sind, d.h. die Mindestentgeltregelung des § 3 LTTG findet keine Anwendung in den Fällen, in denen von den Unternehmen bereits Tariftreue nach § 4 LTTG gefordert werden kann. Dies ist der Fall, wenn ein Tarifvertrag vorliegt, der auf der Basis des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (§ 4 Abs. 1 LTTG) oder des Mindestarbeitsbedingungengesetzes (§ 4 Abs. 2 LTTG) Anwendung findet. Hier verhält sich tariftreu, wer seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rahmen der Auftragsausführung das Entgelt zahlt, das in einem solchen Tarifvertrag festgesetzt ist. In Bezug auf diese Fallkonstellationen hat der Landesgesetzgeber explizit eine vorrangige Anwendung normiert.
10. Die Einlassung der Antragstellerin, das MiLoG sei über § 4 Abs. 2 LTTG als Nachfolgegesetz des Mindestarbeitsbedingungengsetzes (MiArbG) vorrangig anzuwenden, trägt nicht.
Das Mindestarbeitsbedingungengesetz ermöglichte seinerzeit die staatliche Festsetzung von Mindestlöhnen in Wirtschaftszweigen und Beschäftigungsarten, soweit für diese Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern nicht bestanden oder nur eine Minderheit (unter 50 %) der Arbeitnehmer und Arbeitgeber umfassten. § 1 Abs.1 MiArbG betonte ausdrücklich den Vorrang von frei ausgehandelten Tarifverträgen, sodass von der Zielrichtung her der staatliche Normgeber eher zurückhaltend im Rahmen des MiArbG agieren wollte. In der Praxis hat das Gesetz letztlich keine Bedeutung erlangt hat (BT-Drucks. 18/1558, Begründung, S. 57). Es hat auf dieser Grundlage keine Lohnfestsetzungen gegeben. Das MiArbG ist von seinem inhaltlichen Anwendungsbereich mit der branchenübergreifenden, umfassenden und allgemein verbindlichen Mindestlohnregelung des MiLoG nicht vergleichbar. Der Landesgesetzgeber hat sich in § 4 Abs. 2 LTTG ausdrücklich auf einen Anwendungsvorrang von öffentlichen Aufträgen, die vom MiArbG „in der jeweils geltenden Fassung erfasst werden" bezogen. Die Übertragung auf das MiLoG ist angesichts des klaren Wortlauts und der unterschiedlichen Zielrichtung nicht zulässig. Das MiArbG wurde mit Artikel 14 TarifautStG aufgehoben.
11. Des Weiteren ist mit dem Erlass des MiLoG selbst und der dortigen Festsetzung des Mindestlohns in Höhe von 8,50 € auch keine Sperrwirkung in Bezug auf die landesspezifische Tariftreueregelung nach § 3 Abs. 1 LTTG mit dem geregelten Mindestlohn in Höhe von 8,90 € eingetreten.
Die Bereiche, die der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen, sind im Katalog von Artikel 74 GG im Einzelnen aufgeführt. Wenn der Bund — wie vorliegend mit dem MiLoG - von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht, kann dadurch eine Sperrwirkung für die Landesgesetzgebung ausgelöst werden. Dies bedeutet zum einen, dass — vorbehaltlich der hier nicht einschlägigen Ausnahmevorschrift des Artikel 72 Abs. 3 GG — Landesgesetze, die nach diesem Zeitpunkt erlassen werden, als Konsequenz der Unvereinbarkeit mit der Kompetenzregel des Grundgesetzes nichtig sind (Sannwald in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz Kommentar, 12. Aufl., Artikel 72, Rn. 13, unter Bezugnahme auf BVerfGE 67, 299, 328). Zum anderen ergreift die Nichtigkeit auch die der Sperrwirkung unterliegenden Landesgesetze, die vor der abschließenden bundesgesetzlichen Regelung erlassen wurden (vgl. Stettner in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 31; Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 87). Auf einen konkreten Normwiderspruch im Sinne des Artikel 31 GG kommt es diesen Fällen nicht an, weil sich die Nichtigkeit des im fraglichen Sachbereich erlassenen Landesrechts bereits aus der fehlenden Kompetenz ergibt (Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 87).
12. Eine bundesgesetzliche Regelung, die auf der Grundlage der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz ergangen ist, entfaltet jedoch nicht per se mit ihrem Erlass eine Sperrwirkung, sondern erforderlich ist, dass der Bund mit dieser Regelung die betreffende Materie erschöpfend und abschließend geregelt hat (vgl. BVerfGE 85, 134, 142; Kunig in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 9). Die Frage, ob eine bundesrechtliche Regelung als erschöpfend zu bewerten ist, muss „einer Gesamtwürdigung des betreffenden Normenkomplexes" entnommen werden (so BVerfGE 7, 342, 347). Entscheidend ist, ob der Bundesgesetzgeber subjektiv ein Sachgebiet so reglementieren wollte und objektiv auch so reglementiert hat, dass daneben kein Raum mehr für eine landesrechtliche Regelung verbleiben sollte (Kunig, a.a.O.). Es ist auf das Bundesgesetz sowie auf den hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck, die Gesetzgebungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien abzustellen (BVerfGE 109, 190, 230). In der Vergangenheit wurden abschließende Regelungen zum Beispiel für Regelungen der VwGO, für das notarielle Gebührenrecht, für das Straßenverkehrsrecht im Hinblick auf das Parken, für die Bauleitplanung, für das Kooperationsprinzip im Abfallrecht sowie für die nachträgliche Sicherheitsverwahrung zuerkannt (Stettner in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 29, mit Hinweisen auf die entsprechenden Entscheidungen des BVerfG).
Bei der Gesamtwürdigung ist ebenfalls die Systematik der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung im Sinne der Artikel 70 GG als Umstand so mit zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz die Kompetenz der Länder als den Regelfall einstuft (Oeter in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Band 2, 6. Aufl., Artikel 72 GG, Rn. 75). In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass in Zweifelsfällen eine Vermutung zugunsten der Zuständigkeit der Länder und nicht zugunsten einer Bundeskompetenz greift (BVerfGE 42, 20, 28). Für die Annahme einer abschließenden Wirkung verlangt das Bundesverfassungsgericht eine „eindeutige" Aussage des Bundesgesetzgebers (vgl. Oeter, a.a.O., mit Hinweis auf BVerfGE 49, 343, 359 f.).
Ergänzend bleibt in diesem Sinne anzumerken, dass mit dem 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die aktuelle Regelung des Artikel 72 Abs. 1 GG Eingang in das Grundgesetz gefunden. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder gemäß Artikel 72 Abs. 1 GG die Gesetzgebungsbefugnis, solange und soweit der Bund nicht von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat. Nach der Gesetzesbegründung soll mit der Neuregelung klargestellt werden, dass nur bei entsprechenden Anhaltspunkten in der bundesgesetzlichen Regelung die Schlussfolgerung zulässig sei, der Bund habe abschließend von seiner Zuständigkeit Gebrauch machen wollen (so BT-Drucks. 12/6633, S. 8).
13. Vorliegend lässt sich unter Berücksichtigung dieser grundsätzlichen Erwägungen eine abschließende Regelungsintention des Mindestlohngesetzes weder aufgrund seines ausdrücklichen Wortlauts noch im Wege der Auslegung entnehmen.
14. Das MiLoG und das LTTG fußen auf unterschiedlichen Kompetenznormen. Während der Bund seine Regelungskompetenz für das MiLoG auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das „Arbeitsrecht" nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützt (BT-Drucks. 18/1558, Begründung, S. 29), unterliegt das Vergaberecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht als „Recht der Wirtschaft" der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Artikel 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (BVerfG, VergabeR 2007, 42, 48).
Der Bund hat hier zwar durch den 4. Teil des GWB von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, aber in § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB ausdrücklich die Länder zum Erlass von Gesetzen, die die Bedingungen zur Ausführung öffentlicher Aufträge betreffen, ermächtigt. Gemäß Satz 2 der Vorschrift sind Auftraggeber berechtigt, zusätzliche in einem sachlichen Zusammenhang zum Auftragsgegenstand stehende, insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte, zu stellen. Andere oder weitergehende Anforderungen dürfen gestellt werden, soweit dies in einem Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist. Das BVerfG hat diese Vorgaben so interpretiert, dass die Regelung solcher Kriterien durch den Landesgesetzgeber grundsätzlich möglich sein soll (BVerfG, a.a.O.). Die Öffnungsklausel macht deutlich, dass der Gesetzgeber selber davon ausgegangen ist, von seinem Gesetzgebungsrecht im Vergaberecht nicht abschließend Gebrauch gemacht zu haben und zusätzliche landesspezifischen Regelungen nicht ausschließen zu wollen. Bundesrechtliche Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch zulässig (vgl. z. B. BVerfGE 20, 238, 251). Der ausdrückliche Vorbehalt kann als Indiz dafür gewertet, dass der Bund gerade keine erschöpfende und damit abschließende Regelung treffen wollte.
Das MiLoG und das LTTG weisen zudem unterschiedliche Zielrichtungen auf. Während das MiLoG einen unmittelbaren Rechtsanspruch der Beschäftigten gegen ihre Arbeitgeber begründen, handelt es sich bei der LTTG-Verpflichtung um einen vertraglichen Anspruch des öffentlichen Auftraggebers gegen den Auftragnehmer, dass dieser seinen Beschäftigten eine bestimmte Entgelthöhe bei der Auftragsausführung zukommen lässt.
Zu berücksichtigen bleibt ferner, dass das TarifAutStG selber eine Verdrängung des gesetzlichen Mindestlohns zugunsten eines „besseren" Mindestlohns. kennt. Nach § 1 Abs. 3 MiLoG sind die Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes mit der Einschränkung unangetastet, dass die Mindestlohngrenze nach § 1 Abs. 2 MiLoG nicht unterschritten wird. In der Gesetzesbegründung findet sich zu Absatz 3 der genannten Vorschrift insoweit die ausdrückliche Klarstellung: „Der allgemeine Mindestlohn bildet ab dem 1. Januar 2017 eine unterste Grenze, die auch von Branchenmindestlöhnen nicht unterschritten werden darf. Im Übrigen gehen die für die Branchenmindestlöhne geltenden Regelungen den Regelungen des allgemeinen Mindestlohns vor" (BT-Drucks. 18/1858, S. 34). In diesen Kontext passt des Weiteren auch der Appell in der Gesetzesbegründung (a.a.O., S. 28): „Im Übrigen bleiben Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu aufgerufen, über die Organisation in Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und den Abschluss von Tarifverträgen eine angemessene Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am von den Unternehmen Erwirtschafteten zu erreichen".
In diesem Sinne ist die Festlegung des Bundesmindestlohns in Höhe von 8,50 € nur als „Mindeststandard" mit der Maßgabe zu verstehen, dass unterhalb dieser Schwelle keine Spielräume für abweichende, niedrigere Entgelte bestehen. Nach oben hin sind landesspezifische oder tarifvertragliche Abweichungen generell zulässig. Der. Landesgesetzgeber ist daher für den Bereich des öffentlichen Auftragswesens nach wie vor berechtigt, mit landesspezifischen Regelungen über den bundesgesetzlichen Mindeststandard hinaus zu gehen.
Im Ergebnis „sperrt" damit das Mindestlohngesetz des Bundes die Gesetzgebungskompetenz der Länder in der Frage der Mindestentgelthöhe nicht. Ein höherer Mindestlohn, sei es aufgrund von landesrechtlichen oder aufgrund von tarifvertraglichen Regelungen, beansprucht Vorrang vor dem bundesgesetzlichen Mindestentgelt. Es sind damit im Ergebnis keine hinreichenden Anhaltspunkte in der bundesgesetzlichen Regelung erkennbar, die den Schluss zulassen, der Bund habe abschließend von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen wollen. § 3 LTTG ist somit die kompetentielle Grundlage nicht entzogen.
15. Der Nachprüfungsantrag war vor diesem Hintergrund sowohl in Bezug auf den Hauptantrag als auch in Bezug auf den Hilfsantrag zurückzuweisen. Dem weiteren Antrag auf Aussetzung des Submissionstermins war — losgelöst von der Tatsache, dass sich der Antrag infolge Zeitablaufs bereits erledigt hatte - ebenfalls nicht zu entsprechen, weil die Durchführung der Angebotsöffnung nicht schadensursächlich für eine nachteilige Rechtsposition der Antragstellerin war. Soweit die Antragstellerin mit ihrem Nachprüfungsantrag erfolgreich gewesen wäre, hätte ihren Interessen durch die dann notwendige Rückversetzung des Verfahrens in den Stand vor Angebotsabgabe vollumfänglich Rechnung getragen werden können. Im Sinne des Beschleunigungsgebots war die Fortführung des Vergabeverfahrens sowohl zulässig als auch geboten.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 128 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 und 2 GWB.
Die Gebühren und Auslagen der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin sind erstattungsfähig, da die Hinzuziehung ausnahmsweise notwendig war. Ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten auf Seiten der Vergabestelle notwendig war, ist bezogen auf den Zeitpunkt der Vollmachtserteilung aus einer ex-ante Sicht zu beurteilen. Abzustellen ist darauf, ob ein verständiger Beteiligter unter Beachtung seiner Pflicht, die Kosten so gering wie möglich zu halten, die Beauftragung eines Bevollmächtigten für notwendig halten durfte (OLG Koblenz, Beschl. v. 12.06.2009, 1 Verg 4/09 und 1 Verg 5/09). Wie jeder Amtsträger die zur Führung seines Amtes notwendigen Rechtskenntnisse haben oder sich verschaffen muss (BGH, MDR 2000, 383), ist von einer Vergabestelle zu erwarten, dass ihre Mitarbeiter die maßgeblichen Rechtsvorschriften kennen, die mit einer Auftragsvergabe verbundenen Rechtsfragen auch schwieriger Art, beantworten können sowie in der Lage sind, ihren Standpunkt in dem vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägten Verfahren vor der Vergabekammer zu vertreten (st. Rspr. OLG Koblenz; vgl. nur Beschl. v. 12.06.2009, 1 Verg 5/09; Beschl. v. 21.09.2000, 1 Verg 3/00, Beschl. v. 21.09.2000, 1 Verg 2/99). Die Ausstattung mit entsprechendem Fachwissen ist unabdingbare Voraussetzung für die ordnungsgemäße Erfüllung der bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu bewältigenden Aufgabe (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.). Daraus folgt, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts in aller Regel dann nicht als notwendig anzuerkennen ist, wenn im Nachprüfungsverfahren vergabespezifische Vorschriften des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers zur Diskussion stehen (vgl. OLG Koblenz, a.a.O.).
Allerdings ist es damit nicht ausgeschlossen, dass in einem Verfahren, in dem ungewöhnlich umfangreiche oder komplizierte Sachverhalte zur Prüfung anstehen, die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts ausnahmsweise notwendig sein kann (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 21.9.2000, 1 Verg 3/00). Vorliegend handelt es sich um einen Fall, in dem primär unionsrechtliche- und verfassungsrechtliche Fragestellungen streitgegenständlich waren. Derartige Spezialkenntnisse können von einer Vergabestelle nicht zwingend erwartet werden, weswegen die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes aus einer ex-ante-Sicht ausnahmsweise als notwendig erscheinen musste.