Wenn die Rechtsbehelfsbelehrung fehlt oder unvollständig ist

Die Vergabekammer Sachsen hat in einer Entscheidung vom 11. 12. 2009 (Aktenzeichen: 1/SVK/054-09) zur Zulässigkeit des Antrags vor der Vergabekammer Grundsätzliches entschieden, das unbedingt beachtet werden sollte. Zwar ist die Entscheidung noch nicht rechtskräftig, aber wohl zutreffend.
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Es ging um die Zurückweisung einer Rüge und die entsprechende Mitteilung der Nichtabhilfe ohne Hinweise auf die Frist von 15 Kalendertagen für die Anrufung der Vergabekammer. Die Vergabekammer sieht die Vergabestelle hierzu nach den Bekanntmachungsvorschriften der Richtlinie 2004/18/EG verpflichtet. Unterbleibt die „Rechtsbehelfsbelehrung“ oder ist sie unvollständig, dann läuft die Ausschlussfrist von 15 Kalendertagen nach § 107 III S. 1 Nr. 4 GWB n. F. nicht.
Die für nicht wenige überraschende Entscheidung der Vergabekammer Sachsen (Beschl. v. 11.12.2009 – Aktenzeichen: 1/SVK/054-09) betrifft die Antragsfrist des § 107 III S. 1 Nr. 4 GWB n. F. (Unzulässigkeit des Antrags nach Ablauf der 15 Kalendertage nach Eingang der Mitteilung der Nichtabhilfe auf eine Rüge). Die genannte Frist wird als echte Rechtsbehelfsfrist (15 Kalendertage) entsprechend der Richtlinie 2004/18/EG eingestuft: Vgl. Anhang VII Teil A (Bekanntmachung Nr. 24 „Genaue Hinweise in Bezug auf Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen...“). Die fehlenden Hinweise auf Fristen etc. verhindern Fristenlauf, wobei die Vergabekammer ergänzend nationales Recht anwendet (vgl. §§ 58 I VwGO i. V. m. 79 VwVfG: statt 15 Kalendertage die Jahresfrist nach § 79 VwVfG). Auf die Ausführungen von Gass, Janka/Willenbruch, Klaus, Neue Fristen: Chancen und Risiken, Behördenspiegel 2/2010, S. 21, wird hingewiesen.

Wenn diese Entscheidung der VK Sachsen zutrifft (was wohl anzunehmen ist), führt dies dazu, dass in den Fällen, in denen dem Bewerber/Bieter die Nichtabhilfe der Rüge mitgeteilt wird, diese Frist von 15 Kalendertagen nicht eingreift. Das bedeutet, dass in allen Fällen der Rüge (klar als solche erkennbar und gerichtet auf mögliche Anrufung der Vergabekammer) eine Rechtsbehelfsbelehrung vorgesehen werden muss. Bei de-facto-Vergaben muss im Übrigen eine Bekanntmachung nach dem Muster der VO (EG) 1150/2009 „Auftrag fällt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie“ (gemeint ist die Richtlinie 2004/18/EG) an das Amt für amtliche Bekanntmachungen (Luxemburg) gesendet werden, wenn man in Zweifelsfällen (Vergabepflicht? Vergabefreiheit?) von § 101b II Satz 2 GWB (Feststellung der Unwirksamkeit innerhalb von 30 Kalendertagen) profitieren will.


aufen die Ausschlussfristen z. B. nach Zurückweisung einer Rüge nicht, wenn der Auftraggeber in dem EU-Bekanntmachungsformular Hinweispflicht auf den „Rechtsbehelf“ (Antrag auf Überprüfungsverfahren) nicht genügt hat? Offensichtlich besteht hier bei sämtlichen Fristen der § 101b II, 107 III GWB eine erhebliche Unsicherheit. Bestehen Hinweispflichten auf entsprechende Fristen, so laufen diese Fristen möglicherweise im Einzelfall nicht, d. h. die entsprechenden Anträge vor der Vergabekammer sind nicht unzulässig, sondern zulässig. Bedenkt man, dass zahlreiche Überprüfungsverfahren der Bieter infolge unzulässiger Anträge verloren gehen, so liegt die Bedeutung der Frage auf der Hand.

Der Gesetzgeber des GWB hat jedenfalls diese Probleme nicht gesehen. Laufen die entsprechenden Fristen nicht, so kann ein Antrag an die Vergabekammer auch noch nach 15 Kalendertagen nach Zurückweisung der Rüge angebracht werden, ohne unzulässig zu sein. Das OLG Celle hat hier anders als die Vergabekammer Baden-Württemberg und das OLG Karlsruhe entschieden. Die Praxis ist verunsichert.

Ausgangspunkt ist u. a. eine Entscheidung des EuGH (Urt. v. 28.1.2010 - C-406/08) in der festgestellt wurde, dass im irischen Recht eine unbestimmte Nachprüfungsfrist enthalten ist (vgl. hierzu Hübner, Alexander, Das Ende der „unverzüglichen“ und uneingeschränkten Rügeobliegenheit (§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nr.1 GWB). Teils gehen die divergierenden Entscheidungen von dieser Entscheidung des EuGH aus. Betroffen ist Zurückweisung einer Rüge durch den öffentlichen Auftraggeber und die für einen zulässigen Antrag vor der Vergabekammer einzuhaltende Frist von 15 Kalendertagen. Wird diese Frist nicht eingehalten, so ist der Antrag unzulässig, d. h. die gerügten Verstöße werden von der Vergabekammer wegen Unzulässigkeit des Antrags nicht mehr überprüft. Das OLG Celle hat in seinem Beschluss vom 4. 3. 2010 (Aktenzeichen:13 Verg 1/10) in der Frist des § 107 III Nr. 4 GWB (15 Kalendertage für den Gang vor die Vergabekammer) eine „Rechtsbehelfsfrist“ gesehen, auf die der Auftraggeber in der Bekanntmachung hinzuweisen hat. Dort ist unter Ziff. IV.2. im Bekanntmachungsformular eine entsprechende Spalte vorgesehen, in die die Auftraggeber vielfach keine Eintragung aufnehmen. Daher fehlt der entsprechende Hinweis – und, so das OLG Celle, wird die frist nicht Lauf gesetzt. Der Leitsatz der OLG-Celle-Entscheidung lautet: § 107 Abs.3 Nr.4 GWB enthält eine Rechtsbehelfsfrist, auf die nach § 17 a Nr.1 VOL/A (2006) i. V. mit Ziffer VI. 4. 2 Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1564/2005 in der Veröffentlichung der Vergabebekanntmachung hinzuweisen ist.

Die Vergabekammer Baden-Württemberg hat in einem Beschluss vom 26.03.2010 (Aktenzeichen: 1 VK 11/10) hingegen wie auch das OLG Karlsruhe (Beschl. v. 8.1.2010, Aktenzeichen: 15 Verg 1/10) entschieden, dass es sich nicht um eine Rechtsbehelfsfrist, sondern eine Ausschlussfrist handelt, auf die vom Auftraggeber in der Bekanntmachung etc. nicht hingewiesen werden muss. Leitsatz der Vergabekammer: 1. …2. Ein in der Bekanntmachung unterbliebener Hinweis oder eine Belehrung über die Frist des § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB hat nicht zur Folge, dass diese Frist nicht zu laufen beginnt. Eigene Meinung und Hinweise: Die Kernfrage lautet, ob es sich in § 107 III Nr. 4 GWB um eine „Rechtsbehelfsfrist“ handelt. Die Vergabekammer führt m. E. hierzu zutreffend aus: „Die Frist des § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB begann nach Auffassung der Kammer auch wirksam zu laufen. Ein unterbliebener Hinweis oder eine Belehrung über die Frist des § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB hat nicht zur Folge, dass der Nachprüfungsantrag bezüglich des jeweiligen geltend gemachten Vergabeverstoßes auch nach Ablauf der Frist ohne zeitliche Begrenzung noch zulässig ist. In der Bekanntmachung vom 19.12.2009 gab die Antragsgegnerin beim Abschnitt VI („Zusätzliche Informationen“) unter Ziffer IV.4.1) des einheitlichen Formulars als zuständige Stelle für Nachprüfungsverfahren die Vergabekammer Baden-Württemberg nebst Anschrift, E-Mail-Adresse, Telefonnummer, Homepage und Faxnummer an. Die Ziffern 4.2) und 4.3) (ergänzt: des EU-Bekanntmachungsformulars) blieben unausgefüllt. Die Schreiben, mit denen die Antragsgegnerin den Rügen nicht abgeholfen hat (29.01.2010 und 02.02.2010), enthalten keinen Hinweis auf die Frist nach § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB. Mit der Neuregelung des § 107 Abs. 3 GWB beabsichtigte der Gesetzgeber, frühzeitig Klarheit über die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens zu schaffen (BT-Drs. 16/10117, S.22). Wenn die Frist des § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB überschritten ist, ist der Nachprüfungsantrag bezüglich dieses gerügten Vergaberechtsverstoßes unzulässig. So entschied auch das OLG Karlsruhe mit Beschluss vom 08.01.2010, 15 Verg 1/10 in einem Verfahren, in dem die Bekanntmachung in den Feldern VI.4.2) und VI.4.3) ebenfalls keinen Hinweis auf § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB enthielt (so auch VK Baden-Württemberg, B. v. 04.01.2010, 1 VK 74/09).“

Das OLG Celle, aaO, sieht das wie folgt anders: „Denn mangels Hinweises auf die von den Bietern nach der Neuregelung in § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB zu wahrende Frist ist die Präklusionswirkung nach Ansicht des Senats nicht eingetreten. aaa) Nach § 17 a Nr.1 VOL/A i. V. mit Ziffer VI. 4. 2. Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1564/2005 der Kommission vom 7. September 2005 zur Einführung von Standardformularen für die Veröffentlichung von Vergabebekanntmachungen im Rahmen von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge gemäß der Richtlinie 2004/17/EG und der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 257 vom 1. Oktober 2005) ist der Auftraggeber verpflichtet, genaue Angaben zu den von den Bietern zu beachtenden Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen zu machen oder eine Stelle zu benennen, bei der Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erhältlich ist (VI. 4. 4.). bbb) Bei § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB handelt es sich nach Auffassung des Senats um eine anzugebende Rechtsbehelfsfrist. Zwar ist § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB zunächst lediglich als materielle Präklusionsvorschrift ausgestaltet, so dass bei isolierter Betrachtung ein Nachprüfungsantrag weiterhin Frist ungebunden eingereicht werden kann und allein die Geltendmachung des der Rüge zu Grunde liegenden Sachverhalts präkludiert ist. Nach der Konzeption des § 107 Abs. 3 GWB setzt aber die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens regelmäßig eine Rüge voraus, der durch den Auftraggeber nicht abgeholfen wurde, so dass die Frist zwischen Bekanntgabe der Nichtabhilfe und der Einreichung des Nachprüfungsantrags als echte Rechtsbehelfsfrist anzusehen ist (VK Bund, Beschluss vom 30. Oktober 2009 - VK 2 - 180/09, zitiert nach juris Tz. 102. VK Südbayern, Beschluss vom 5. Februar 2010 - Z33319416612/09, zitiert nach ibronline, S. 11, Summa in: jurisPKVergR 2. Aufl. § 107 Rdn. 186.32. Jaeger, NZBau 2009, 558, 562). Auf diese Frist hat die Antragsgegnerin in ihrer Bekanntmachung im Amtsblatt der EU nicht hingewiesen (vgl. Ziffer VI. 4. 2.). Auch eine Stelle, bei der Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erhältlich sind (Ziffer VI. 4. 4.), hat sie nicht angegeben.“

Die Konsequenzen der divergierenden Entscheidungen sind erheblich. Handelt es sich um eine Rechtsbehelfsfrist mit Hinweispflicht, so läuft die Ausschlussfrist der 15 Kalendertage nicht – es tritt keine Unzulässigkeit des Antrags ein. Mit Blick auf die Entscheidung vom OLG Karlsruhe (Beschl. v. 8.1.2010 - 15 Verg 1/10) hätte m. E. das OLG Celle (Beschl. v. 4. 3. 2010 - 13 Verg 1/10) die Sache dem BGH vorlegen müssen (gegebenenfalls dem EuGH?). Nicht betroffen hiervon sind die Informationspflicht und Wartefrist des § 101a GWB und eine danach erfolgte Rüge und Zurückweisung. Aber auch die vom OLG Celle, aaO, angenommene Einstufung als „Rechtsbehelfsfrist“ ist m. E. unzutreffend. Zunächst heißt es in dem Bekanntmachungsformular unter VI.4.2. „bitte ….ausfüllen“. Das ist zumindest missverständlich, da nicht zwingend. Ferner ist zu beachten, dass zwar hinsichtlich des Bekanntmachungsformulars unter Ziff. 24 der Richtlinie 2004/18/EG ausgeführt ist: „Genaue Hinweise in Bezug auf Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen….“. Auch verweist Art. 36 I Rili 2004/18/EG auf das Bekanntmachungsformular in Anhang VII Teil A. Allerdings enthält das reformierte GWB keine entsprechenden Hinweise, wie die Vergabekammer Baden-Württemberg, aaO, dies zutreffend bemerkt. Die Vergabekammer weist auch richtig darauf hin, dass zwischen den umgesetzten Texten der Richtlinien 2004/18/EG und 2004/17/EG und den Bekanntmachungsformularen zu unterscheiden ist. Die unvollständige oder unzutreffende Ausfüllung eines zudem unklaren Bekanntmachungsformulars könne nicht zu einer so schwerwiegenden Rechtsfolge führen, nämlich dem Nichtlauf der Frist des § 107 III Nr. 4 GWB, zumal sich diese selbst nach dem Zuschlag zumindest noch in dem Feststellungsverfahren und der Kostenentscheidung auswirkt – ferner im Rahmen einer Schadensersatzklage vor den Zivilgerichten. Wie in mancher anderen Rechtsfrage z. B. das OLG Düsseldorf (Grundstückskauf, Generalübernehmer, Bietergemeinschaften und Subunternehmerangebot etc.) schießt das OLG Celle, aaO, über das hinaus, was im Interesse der Transparenz und Rechtssicherheit geboten ist. Ganz nebenbei ist anzumerken, dass das Fehlen der entsprechenden Angaben aus der Bekanntmachung ersichtlich ist. Es hätte daher eine entsprechende Rüge erfolgen müssen (vgl. § 107 III Nr. 2 GWB). Da eine entsprechende Rüge in den entschiedenen Fällen nicht erfolgte, konnte der Auftraggeber auch davon ausgehen, dass diese Frage für den jeweiligen Bieter nicht relevant ist, weil er z. B. über die Rechtslage informiert ist – als sachkundiger Bewerber bzw. Bieter.

Hinzuweisen ist noch auf eine Entscheidung der Vergabekammer des Bundes (Beschl. v. 5.3.2010 – Aktenzeichen: VK 1-16/10 v. 5.3.2010). Danach liegt kein Verstoß gegen Europarecht in dem Ausschlusstatbestand des § 107 III Nr. 1 GWB, der für die Fall der verspäteten Rüge die Unzulässigkeit des Antrags vor der Vergabekammer vorsieht.

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