Keine Reformen des Vergaberechts mehr ohne nachvollziehbare Basis

Prof. Dr. Harald Bartl, Experte bei CitoExpert kritisiert die Reformen on 2009 und 2010: „Diese `Reformen´ hätte man sich sparen können und müssen – vor allem deshalb, weil die Regierungskoalition bereits im November 2009 eine grundsätzliche Reform angekündigt hatte.“

Das Vergaberecht befindet sich seit Jahrzehnten in einer unerträglichen „Dauerreformierung“, die nicht nur auf erforderlichen Umsetzungen von EU-Vorgaben beruht, sondern auch in der Bundesrepublik „hausgemacht“ ist. Die Reform 2009/2010 kann getrost als misslungen und in großen Teilen als überflüssig betrachtet werden. Erforderliche Daten fehlten. Hinzu kam und kommt eine teils über die EG-Vorgaben hinausschießende deutsche Rechtsprechung diverser Oberlandesgerichte, die auch jetzt gerade wieder für erhebliche Verunsicherung sorgt. Das Kaskadensystem und insbesondere die „Tätigkeiten“ der Verdingungsausschüsse (DVA, DVAL) sollten nicht nur überdacht, sondern entfallen.

Am unverständlichsten sind die Verhältnisse in den Ländern. Hier finden sich nahezu in jedem Land Vergabegesetze, Verordnungen, ungezählte Geschäftsbedingungen und sonstige überflüssige Regelungen. Die so genannte „Reform“ der VOL/A und VOB/A verdient ihren Namen nicht. Immerhin will die Bundesregierung jetzt einmal innehalten und versuchen, die für eine wirkliche Reform erforderlichen Daten ermitteln. Es ist zu hoffen, dass die gelingt – vor allem aber tritt nun erst einmal zumindest auf Bundesebene eine Denkpause ein. In den Ländern aber wird weiter eifrig eine überflüssige Maßnahme nach der anderen produziert. „Vergaberechtliche Kleinstaaterei“ zu Lasten aller Betroffenen.

Neuerdings will die EU-Kommission schon wieder reformieren – sie hat eine Konsultation zum Vergaberecht eingeleitet; Ziel ist die Reform des Vergaberechts – Beteiligung aller Betroffenen ist erwünscht unter http://ec.europa.eu/international_market/consultations/2011/public_procurement_en.htm

Die letzten Jahrzehnte waren bekanntermaßen geprägt durch unerträgliche und permanente Unruhe in der Gesetzgebung. Besonders bedauerlich sind nach wie vor die unterschiedlichen und zahlreichen Länderregelungen. Nahezu jedes Land weist ein eigenes Vergabegesetz oder auch sonstige Vorschriften auf, häufig in Kombination mit Mittelstandsförderung und sonstigen Vorgaben (Aus- und Durchführungsverordnungen, Bewerbungsbedingungen vielfach mit vergaberechtswidrigen und unwirksamen Klauseln, Beschaffungsordnungen vielfach lediglich mit Wiedergaben der VOL/A bzw. VOBA in „Prosa“ etc.

Der neueste Stand u. a. mit der Verlängerung der Erleichterungen des Konjunkturpakets II zeigt auch im Jahr 2011 mit aller Deutlichkeit, dass sich die Rechtslage von Land zu Land weiter erheblich unterscheidet. Insofern wird auf www.vergabetip.de (VOLaktuell 1-2011) verwiesen. Teilweise werden die Erleichterungen bis zum Jahr 2015 (Thüringen) verlängert.

Besonders bedauerlich ist auch die Reform des GWB 2009 (zahlreiche Streitpunkte und Unklarheiten, mögliche fehlende Richtlinienkonformität wie etwa in den §§ 97 V, 107 III GWB etc.). Noch weniger akzeptabel sind allerdings die „Reformen“ der VOL/A und VOB/A, die im Grunde keinerlei wesentliche Neuerungen (Eigennachweise, Direktkauf, Internet-Bekanntmachungen, Klarstellung der Dokumentation etc.) aufweisen, sondern vor allem schlichte §§-Verschiebungen von der alten in die neue Fassung darstellen (z. B. §§ 4,5,8,9,16, 17, 18, 19, 21, 22, 25 III, 26, 30 etc. aF in die §§ 2 II, III, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 16 III, 17, 18 I; 19, 20 VOL/A). Hinzukommen sind im Grunde neu geschaffene Unklarheiten der VOL/A in den §§ 13 III („müssen“), 16 II („können“), 16 VIII (nur bekannt gemachte Kriterien), 18 I (wirtschaftlichstes Angebot, Preis allein nicht entscheidend – vgl. hierzu auch § 16 VIII). Auch in den Bestimmungen der „EG VOL/A“ sowie den „a-§§ VOB/A“ sind entsprechende Formulierungen nahezu deckungsgleich anzutreffen, die nicht weiterführen.

Prof. Dr. Harald Bartl kritisiert weiter: „, Experte von CitoExpert: „Ohne auf die Praxis, die Mitarbeiter der Vergabestellen und Bewerber/Bieter Rücksicht zu nehmen, wurde die Vergabeverordnung 2010 am 10.6.2010 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat mit VOL/A, VOB/A und VOF sowie der Sektorenverordnung von heute auf morgen am 11.6.2010 in Kraft. Die damit verbundene Unsicherheit für die Betroffenen hätte unbedingt vermieden werden müssen. Während ständig von Entbürokratisierung der Vorschriften und Bekämpfung der Normenflut die Rede ist, zeigt die Gesetzgebung auf Bundes- und Landesebene das krasse Gegenteil. Hierbei wird vor allem auch deutlich, dass man das eigentliche Ziel, eine wirtschaftliche, transparente und effektive Beschaffung durch die Flut der Rechtsvorschriften verhindert. Das Ziel der wirtschaftlichen Beschaffung ist zumindest teils aus den Augen verloren worden. Die Bereiche der Markterkundung, Marktübersicht und Risikoanalyse sind vollständig bzw. weitgehend durch überbürokratische Vorschriften und eine entsprechende scharfe Rechtsprechung derart belastet, dass das eigentliche Ziel des „wirtschaftlichen Einkaufs“ nicht mehr erkennbar ist.“

Immerhin soll es nun auch im nationalen Bereich anders kommen. Nachdem das BMWI bereits in einer früheren Untersuchung festgestellt hat, dass die Beschaffungen nach VOL/A, VOB/A und VOF insgesamt zu einem Gesamtaufwand der öffentlichen Hand und der Wirtschaft zu ca. 34 Milliarden führen, hätte man schon damals bei den so genannten „Reformen“ etwas zielgerichteter vorgehen müssen. Dem Gesetzgeber fehlten aber nach wie Daten etc. Das hat man offensichtlich nunmehr zumindest im BMWI eingesehen; denn endlich wird vor einer weiteren Reform des Vergaberechts 2011 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie eine Studie zur (und natürlich damit auch vor) Reform des Vergaberechts ausgeschrieben.

Das bedeutet zumindest, dass vor Vorliegen dieser Studie nicht mit einer weiteren Reform zu rechnen ist. Erfreulicherweise werden damit (hoffentlich!) zukünftige Schritte nicht ohne entsprechende Fakten und Daten erfolgen (BMWi: Vergabe einer Studie „Statistische Daten im öffentlichen Beschaffungswesen“ – Frist für Teilnahmeantrag: 12.1.2011 - BMWi - Referat I C 4 - Villemombler Str. 76 - D-53123 Bonn - Telefon: (+49 30 18) 6 15-27 21 - Fax: (+49 30 18) 615-26 98, oder -44 36 - E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. - Internet: www.bmwi.de - Bearbeitungsnummer: I C 4 - 02 08 15 - 08/11 -) Thema der Studie sind u. a : Statistische Daten im öffentlichen Beschaffungswesen Ermittlung von Anzahl und Volumina nationaler und europaweiter Ausschreibungen auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen (Strukturerhebung).

In der Koalitionsvereinbarung vom November 2009 war ja eine weitere Reform des bestehenden Vergaberechts beschlossen worden (Straffung und Vereinfachung, Rechtsschutz unterhalb der EU-Schwellenwerte, Anhebung der Schwellenwerte entsprechend KOPA II etc.). Zutreffend führt das BMWI nunmehr aus, die Entscheidungen über Notwendigkeit und Umfang der erforderlichen Reformschritte müssten auf einem soliden Fundament getroffen werden (z. B. umfassendes Datengerüst etc.).

Materialien und Literatur:

Europäisches Parlament – Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18.5.2010 zu neuen Entwicklungen im öffentlichen Auftragswesen 2009/1275(INI)) – insofern sind Empfehlungen, Kritiken und Forderungen anzutreffen, die allerdings nicht durchgängig durch vergaberechtlichen Sachverstand geprägt sind. Im Europäischen Parlament sind sehr starke Tendenzen festzustellen (z. B. Zulässigkeit der Tariftreuerklärung gegen EuGH). Ordnungspolitische Grundsätze sind wohl weniger im Blick des Parlaments. Entbürokratisierung wird gefordert – sicherlich mit Recht. Allerdings sollte nicht übersehen sein, dass die Verwaltung den Gesetzen etc. zu folgen hat, die die Parlamente – auch das EU-Parlament – mitgestalten.

Bekanntlich ist die Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden und nicht Gesetzgeber. Betrachtet man daneben den „Monti-Bericht“ „Neue Strategien für den Binnenmarkt“ vom 9.5.2010, aus dem sich ebenfalls einige Empfehlungen auch im Zusammenhang mit dem Vergaberecht ergeben, so besteht leider zu befürchten, dass sich hier eine „neue Reformwelle“ für das Vergaberecht in Europa ergeben könnte, obwohl z. B. die Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG gerade erst 2010 einer „Reform“ unterzogen wurden. Möglicherweise wird hier auch die Verlängerung der Tätigkeit der „Stoiber-Gruppe“ zum Bürokratieabbau bis 2012 wenig bewirken können. Aus der Sicht der Praxis wäre es mehr als förderlich, wenn es endlich zu einer gewissen Ruhe im Bereich der Gesetzgebung kommen würde.

Amelung, Steffen, Die VOL/A 2009 – Praxisrelevante Neuregelungen für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen, NZBau 2010, 727- die Ausführungen von Amelung sind teils unverständlich unkritisch, wenn auch nicht durchgängig; die „Verkürzung“ von 30 auf 20 §§ bzw. von 32a-§§ auf 24 §§ der VOL/A sind im wesentlichen schlichte „Verschiebungen“ (z. B. §§ 12 – 15 VOL/A aF in §§ 2 IV, 9 II – IV bzw. § 5 aF in § 2 II VOL/A etc.). Wirkliche Neuerungen sind im Grunde nur in den Eigenerklärungen nach § 6 III VOL/A bzw. der Zulassung des „Direktkaufs“ mit „mickrigen“ 500 € nach § 3 VI VOL/A zu sehen. Mit Eigenerklärungen musste sich der Auftraggeber aber bereits vor der Reform nach den Grundsätzen der „Verhältnismäßigkeit“ zufrieden geben. Ein Desaster sind die §§ 13 III, 16 II, VII, VIII, 18 I VOL/A nF. Hier wurden alte Fehler (vgl. § 25 III VOL/A aF) weiter geführt (vgl. auch § 97 V GWB: „wirtschaftlichstes Angebot“). § 2 III VOL/A nF ist weniger deutlich als § 16 Nr. 1 und Nr. 2 VOL/A aF. § 8 Nr. 1 VOL/A aF wurde verstümmelt zu § 7 I VOL/A. Eine „produktbezogene Leistungsbeschreibung“ nach § 7 IV S. 2 VOL/A nF bleibt, wie Amelung dies auch richtig ausführt, weiterhin die schwer zu begründende Ausnahme. Aus welchen Gründen die §§ des 2. Abschnitts nunmehr EG-§§ heißen, ist nicht ersichtlich.

Mehr als wünschenswert wäre auch eine Abstimmung VOL/A mit der VOB/A gewesen. Eine derartig überflüssige Reform – vor allem im Unterschwellenbereich – sollte in Zukunft vermieden werden. Der sachliche Gehalt der Reform ist im Vergleich zum Umstellungsaufwand zu gering. Solche „Reformen“ sollte man sich zukünftig ein- für allemal schenken. Es ist nach Meinung von Prof. Bartl keine wirkliche Erleichterung für die Vergabestellen und Bieter ersichtlich. Weitere Kritik bleibt einem gesonderten Beitrag vorbehalten.

Burgi, Martin, Die Zukunft des Vergaberechts, NZBau 2009, 609

Burgi, Martin, Streitbeilegung unterhalb der Schwellenwerte durch „Vergabeschlichtungsstellen“: Ein Vorschlag zur aktuellen Reformdiskussion, VergabeR 2010, 403

Forum Vergabe e. V., Dreizehnte Badenweiler Gespräche, Dokumentation der Veranstaltung v. 13. – 15- Mai 2009, Erschienen 2010, Bundesanzeiger Verlag (zahlreiche Beiträge zur Bilanz der Reform etc.)

Knauff, Matthias, Das Kaskadensystem im Vergaberecht – ein Regelungsmodell mit Zukunft?, NZBau 2010, 657 (mit Recht kritisch zum sog. Kaskadensystem, vor allem auch zur m. E. überflüssigen Rolle des DVA und DVAL – ein Musterbeispiel für Reformen dieser Art bildet vor allem die VOL/A, bei der Wesentliches gestrichen wurde und neue Unklarheiten vorgesehen wurden – vor allem im Bereich der §§ 2 III (früher § 16 Nr. 1 und 2), 13 III, 16 II, VII, VIII, 18 I VOL/A). Eine solche Verwaltungsvorschrift für die Verfahren unterhalb der Schwellenwerte ist ungeeignet und geradezu eine „Aufforderung“ Intransparenz der Vergabeverfahren.

Köster, Bernd, 10. Düsseldorfer Vergaberechtstag 2009, NZBau 2009, 639

Köster, Bernd, Kommunale Wirtschaftsförderung durch Vergabe öffentlicher Aufträge? - Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit den Vergabeerlassen zur Beschleunigung von Investitionen durch Vereinfachungen im Vergaberecht, NZBau 2010, 473

Kühling/Huerkamp, Vergaberechtsnovelle 2010/2011: Reformbedarf bei den vergabefremden Ausführungsbedingungen nach § 97 Abs. 4 S. 2 GWB, VergabeR

Rechten, Stephan, 13. Badenweiler Gespräche des forum vergabe e. V., NZBau 2009, 698

Rechten, Stephan/Junker, Maike, Das Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts - oder: Nach der Reform ist vor der Reform, NZBau 2009, 490

Schwabe, Christof, 11. Düsseldorfer Vergaberechtstag 2010, , NZBau 2010, 617 (618/618 – zur Reform auf europäischer und nationaler Ebene und zur Evaluation und Reform des Vergaberechts (Dobler, BMWT, und Spiegel, EU-Kommission)

Waldmann, Bettina, Zwischenbilanz: Stand der Reform des Vergaberechts am Ende der 16. Wahlperiode, VergabeR 2010, 298

Werner, Michael, Die neue VOB/A aus Sicht der Bauindustrie, VergabeR 2010, 328

Ziekow, Jan, Der Faktor Zeit bei der Vergabe: Schafft das Vergaberecht Berechenbarkeit?, VergabeR 2010, 861 (Auftraggeberschaft: Änderungen während des Vergabeverfahrens - Hoflieferanten und Vertragslaufzeit, Verhandlungsverfahren und Voraussetzungen) – Hinweise: Immer wieder ist darauf hinzuweisen, dass einer der ersten Schritte der Beschaffung der so genannte Zeitrahmen ist – zumindest ein vorläufiger Zeitrahmen –, um „Überraschungen, Zeitdruck etc. zu vermeiden. Im Übrigen zeigt der Aufsatz von Ziekow zutreffend auf, dass mit Änderungen nach Beginn des Vergabeverfahrens in mehrfacher Hinsicht gerechnet werden sollte und dies zum Gegenstand einer Abwicklungsprognose zu machen ist (z. B. B. Optionen etc.). Zutreffend differenziert Ziekow auch z. B. nicht zwischen Optionen und Verlängerungen von Verträgen durch Unterlassen der Kündigung (Ziekow, aaO, 867) – unrichtig differenzierend Scharen, Uwe, Vertragslaufzeit und Vertragsverlängerung als vergaberechtliche Herausforderung? NZBau 2009, 67.

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