Der BGH bleibt auf klarem Weg

Nicht nur die EU-Kommission und der nationale Gesetzgeber machen dem Anwender Sorgen – auch die nationale Rechtsprechung vor allem einiger Oberlandesgerichte. Erfreulicherweise beschreitet wenigstens der Bundesgerichtshof in der Regel einen klaren und prognostizierbaren Weg (z. B. zu der Frage, ob unterhalb der Schwellenwerte für Nebenangebote Mindestanforderungen anzugeben sind, was der BGH in seiner Entscheidung vom 30.08.2011 – Aktenzeichen: X ZR 55/10 – zutreffend ablehnt).


Die Entscheidungen der Oberlandesgerichte sind hingegen zumindest teilweise mehr als überraschend. Immerhin entsprechen die OLG in der Regel ihrer Vorlagepflicht an den BGH (z. B. das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 2.11.2011 (Aktenzeichen: VII – Verg 22/11), soweit es um die Frage geht, ob bei der Zulassung von Nebenangeboten als Zuschlagskriterium nicht der Preis allein, sondern nur der Zuschlag „auf das wirtschaftlich günstigste Angebot“ vorgesehen werden darf (OLG Düsseldorf <ja> contra OLG Schleswig <nein – auch der Preis allein zulässig>).

Strittig ist auch die Frage, ob es sich im Rahmen von § 107 III GWB um hinreichend klare Fristen („unverzüglich“) bzw. um Rechtsbehelfsfristen handelt, auf die hingewiesen werden muss (OLG Celle gegen OLG Schleswig).

Bemerkenswert ist ferner eine Entscheidung des OLG Düsseldorf, die entgegen anderen OLG davon ausgeht, dass keine Markterkundung erforderlich ist.

Überraschend sind ferner einige Entscheidungen des OLG Düsseldorf (Nebenangebote nur in Kombination mit dem „wirtschaftlich günstigsten Angebot“; keine Erforderlichkeit der Markterkundung) oder des OLG Celle (§ 107 III Nr. 4 GWB – Rechtsbehelf und Fristenlauf – gegen OLG Schleswig).

Zur Frage der Nebenangebote und Preis: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.11.2011, VII – Verg 22/11 – Briefdienstleistungen – Nebenangebote und Zuschlag auf Preis allein – Vorlagebeschluss an BGH wegen OLG Schleswig – § 124 Abs. 2 S. 1 GWB, § 25 Nr. 2 Abs. 3 VOL/A, Art. 24 Abs. 1 RL 2004/18/EG, Art. 53 Abs. 1 RL 2004/18/EG – vgl. bereits OLG Düsseldorf, Beschl. v. vom 10.03.2011 – VII – Verg 22/11.

Dicks, Heinz-Peter, Nebenangebote – Erfordern Zulassung, Zulässigkeit, Mindestanforderungen und Gleichwertigkeit inzwischen einen Kompass? VergabeR 2012, 318

Herrmann, Alexander, Rechtsprobleme bei der Zulassung und Wertung von Nebenangeboten im Bereich europaweiter Ausschreibungen, VergabeR 2012, 673

Zur Rechtsbehelfsproblematik: EuGH, Urt. v. 28.1.2010 – C-406/08 – VergabeR 2010, 451 = NZBau 2010, 183, m. Anm. v. Krohn – Uniplex – Rahmenvereinbarung – unbestimmte Nachprüfungsfrist – Kenntnis oder Kennenmüssen des Verstoßes
EuGH, Urt. v. 28.1.2010 – C-456/08 – SIAC – Komm../.Irland – Richtlinie 93/37/EWG – Öffentliche Bauaufträge – Bekanntgabe von Entscheidungen bezüglich der Auftragsvergabe an die Bewerber und Bieter – Richtlinie 89/665/EWG – Nachprüfungsverfahren im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge – Frist für den Nachprüfungsantrag – Fristbeginn.

Urteilstenor: Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Irland hat dadurch, dass – die National Roads Authority dem nicht berücksichtigten Bieter ihre Entscheidung zur Vergabe des Auftrags für die Planung, den Bau, die Finanzierung und den Betrieb der Westumgehung von Dundalk nicht mitgeteilt hat und – Order 84A(4) der Rules of the Superior Courts in der Fassung des Statutory Instrument Nr. 374/1998 beibehalten worden ist, soweit sie zu einer Ungewissheit darüber führt, gegen welche Entscheidung der Rechtsbehelf zu richten ist und wie die Fristen für die Einreichung des Rechtsbehelfs zu bestimmen sind, gegen seine Verpflichtungen – hinsichtlich der ersten Rüge – aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 geänderten Fassung sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge in der durch die Richtlinie 97/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1997 geänderten Fassung und – hinsichtlich der zweiten Rüge – aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 in der durch die Richtlinie 92/50 geänderten Fassung verstoßen.

OLG Celle, Beschl. v. 4. 3. 2010 – 13 Verg 1/10 – NZBau 2010, 333 – Elektronische Fahrscheindrucker – Ausschlussfrist nach § 107 III Nr. 4 GWB – Rechtsbehelfsfrist – Hinweispflicht in der Bekanntmachung – §§ 17 a Nr. 1 VOL/A, 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB – Leitsatz: § 107 Abs.3 Nr.4 GWB enthält eine Rechtsbehelfsfrist, auf die nach § 17 a Nr.1 VOL/A (2006) i. V. mit Ziffer VI. 4. 2 Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1564/2005 in der Veröffentlichung der Vergabebekanntmachung hinzuweisen ist. – Hinweis auf die Rechtsbehelfsfrist von 15 K-Tagen erforderlich – andernfalls kein Fristenlauf – kein Erfolg der sofortigen Beschwerde im Übrigen infolge Vorliegens zwingender Ausschlussgründe – Aufhebung – Feststellungsinteresse.

OLG Schleswig, Beschl. v. 1.4.2010 – 1 Verg 5/09 – Bereitstellung eines Verwaltungsgebäudes (PPP-Projekt) – Abschluss eines Entwicklungs- und Mietvertrages mit Rücktrittsrecht – Ausübung des Rücktrittsrechts – Abschluss eines Mietvertrages über 25 Jahre mit Verlängerungsoption mit einem anderen Vermieter – Bekanntmachung des Auftrags im Amtsblatt – Ablauf der 30-Tagesfrist des § 101 b) II GWB – Frist ist Ausschlussfrist, keine Rechtsbehelfsfrist (Fehlen entsprechender Regeln, Entnahme der weiteren Rechtsfolgen nach Bekanntmachung dem Gesetz entnehmbar) – keine Belehrung über Ausschlussfrist erforderlich – vgl. OLG Celle, Vergabekammer Baden Württemberg, Vergabekammer Bund.

Vergabekammer Baden-Württemberg, Beschl. v. 26.03.2010, 1 VK 11/10 – Schülerbeförderung“ – Zurückweisung der Rüge – keine Hinweispflicht auf angeblichen „Rechtsbehelf des § 107 III Nr. 4 GWB (15-Tage-Frist) – Zurückweisung des Antrags §§ 107 Abs. 3 Nr. 4, 107 Abs. 3 Nr. 3, 107 Abs. 3 Nr. 1, 107 II GWB, 25 Nr. 2 Abs. 3 VOL/A – Leitsatz der Vergabekammer: 1. § 25 Nr. 2 Abs. 3 VOL/A entfaltet nur ausnahmsweise mitbieterschützende Wirkung. 2. Ein in der Bekanntmachung unterbliebener Hinweis oder eine Belehrung über die Frist des § 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB hat nicht zur Folge, dass diese Frist nicht zu laufen beginnt.

Vergabekammer Bund, Beschl. v. 5.3.2010 – VK 1-16/10 v. 5.3.2010 – kein Verstoß gegen Europarecht: § 107 III Nr. 1 GWB – verspätete Rüge (vier Tage nach Ablauf der Angebotsfrist nicht unverzüglich) – Rahmenvertrag – Ausschreibung – Aufhebung – weiteres Verfahren als Verhandlungsverfahren – vgl. hierzu Vergabekammer Baden-Württemberg, Beschl. v. 26.03.2010, 1 VK 11/10 – Schülerbeförderung“ (s. o.) sowie OLG Celle, Beschl. v. 4.3.2010 – 13 Verg 1 / 10 – elektronischer Fahrscheindrucker – auch EuGH, Urt. v. 28.1.2010 – C-406/08 – VergabeR 2010, 451 NZBau 2010, 183, m. Anm. v. Krohn – Uniplex – Rahmenvereinbarung – unbestimmte Nachprüfungsfrist – Kenntnis oder Kennenmüssen des Verstoßes – hierzu Hübner, Alexander, Das Ende der „unverzüglichen“ und uneingeschränkten Rügeobliegenheit (§ 107 Abs. 3 Satz 1 Nr.1 GWB) – VergabeR 2010, 414 – bereits VOLaktuell 2/3 2010.

Vergabekammer Sachsen, Beschl. v. 11.12.2009 – 1/SVK/054-09 – Antragsfrist des § 107 III S. 1 Nr., 4 GWB (Unzulässigkeit des Antrags nach Ablauf der 15 Kalendertage nach Eingang der Mitteilung der Nichtabhilfe auf eine Rüge) – echte Rechtsbehelfsfrist (15 Kalendertage) – Richtlinie 2004/18/EG – Anhang VII Teil A (Bekanntmachung Nr. 24 „Genaue Hinweise in Bezug auf Fristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen…..“) – Fehlende Hinweise auf Fristen etc. verhindern Fristenlauf (vgl. §§ 58 I VwGO i. V. m. 79 VwVfG: statt 15 Kalendertage die Jahresfrist nach § 79 VwVfG.

EuGH, Urt. v. 21.1.2010 — C-17/09 – VergabeR 2010, 465, m. Anm,. v. Losch = NZBau 2010, 326 – Biomüll und Grünabfälle – Ausschreibungspflicht eines Vertrags über Abfallentsorgung – „Müllverwertungsanlage Bonn– Stadt Bonn – de-facto-Vergabe – Vergabe durch die Stadt Bonn und die Müllverwertungsanlage Bonn GmbH (MVA) ohne Vergabeverfahren – öffentlichen Dienstleistungsauftrag – Verhältnis zwischen Vergabe- und Abfallrecht – keine Befreiung von den Verpflichtungen der Richtlinie 92/50 – Unterlassen eines nationalen Nachprüfungsverfahren nach dem EuGH nicht erheblich – Zuständigkeit der Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren auch bei Verträgen, gegen die national kein Rechtsbehelf infolge Fristablaufs mehr eingelegt werden könne, weil die entsprechenden Fristen abgelaufen seien – so schon frühere Entscheidungen des EuGH – nationale Ausschlussfristen – nationales Überprüfungsverfahren (Schutz der Bewerberinteressen) und EU-Vertragsverletzungsverfahren (Beachtung des Gemeinschaftsrechts) haben unterschiedliche Ziele – Aufgreifen durch EU-Kommission auch noch 10 Jahre Vertragsschluss = Auftragsvergabe – zulässig – keine „Verwirkung“ – vgl. hierzu vor allem EuGH, Urt. v. 12.12.2002 – C 470/99 – Universale-Bau – Österreich; auch EuGH, Urt. v. 15.10.2009 – C 275/08 – Kommission./. Deutschland – Kfz.-Zulassung – Software

Zur Frage der Erforderlichkeit der Markterkundung: keine grundsätzliche Erforderlichkeit der Markterkundung – OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.7.2012 – Verg 7/12 – ZfBR 2012, 723 – Anti-Grippe-Impfstoffe – nur Spritzen ohne oder mit abnehmbarer Kanüle – Abgrenzung zwischen produktneutraler Ausschreibung und Bestimmungsrecht des Auftraggebers – „technische und ästhetische Anforderungen bestimmt der Auftraggeber. Es ist grundsätzlich keine Markterforschung oder Markterkundung notwendig, ob eine andere Lösung möglich ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieses Bestimmungsrecht grenzenlos ist; die Anforderung muss vielmehr objektiv auftrags- und sachbezogen sein. Des Weiteren muss die Begründung nachvollziehbar sein...

Die Oberlandesgerichte Jena (Beschl. v. 26.6.2012 – Verg 2/06 – Anna-Amalia-Bibliothek) und Celle (Beschl. v. 22.5.2008 – 13 Verg 1/08 – Farbdoppler-Ultraschallsystem) gehen demgegenüber davon aus, dass der Auftraggeber sich zunächst einen Marktüberblick verschaffen und dann begründen muss, warum eine andere als die von ihm gewählte Lösung nicht in Betracht kommt. Die zuletzt genannte Auffassung engt nach Auffassung des Senats das Bestimmungsrecht des Auftraggebers zu sehr ein. Solange die Anforderung nicht dazu führt, dass die Ausschreibung auf ein oder wenige Produkte zugeschnitten ist, wird dem Grundsatz der Vergabe im Wettbewerb und der Wahrung der Bietervielfalt hinreichend Rechnung getragen. Die Vergabenachprüfungsinstanzen können dem Auftraggeber nicht eine technische oder ästhetische Lösung vorschreiben, die zwar auch in Betracht kommt, aber vom Auftraggeber aus nachvollziehbaren Gründen nicht gewünscht wird...“

Hinweis: Die Entscheidung des OLG Düsseldorf, aaO, erstaunt und ist jedenfalls in ihren Ausführungen kritisch zu betrachten (vgl. §§ 2 III, 7 III, IV VOL/A etc.). Die Entscheidung ist durch Unklarheiten, „einerseits und andererseits“ etc. gekennzeichnet. Wie kann eine Vergabestelle hoffen, dass die Entscheidung zu ihren Gunsten ausfällt? Dienen diese Aussagen der Rechtssicherheit und Prognostizierbarkeit einer Entscheidung? Man kann den Vergabestellen nur empfehlen, sich entsprechend durch Markterkundung und Marktübersicht in jedem Vergabeverfahren entsprechend den Vorgaben der OLG Jena und Celle abzusichern und dies entsprechend nachvollziehbar zu dokumentieren (vgl. §§ 20 VOL/A, 24 EG VOL/A).

Markterkundung – OLG München, Beschl. v. 19.07.2012 – Verg 8/12 – NZBau 2012, 658 = ZfBR 2012, 715 – Abgrenzung Markterkundung und Vergabeverfahren – Erledigung der Hauptsache (Erklärung vor der Vergabekammer: Zusage der europaweiten Ausschreibung – Zulässigkeit des Fortsetzungsfeststellungsantrags nach § 114 II S. 1 GWB (nachträgliche Gegenstandslosigkeit des Antrags z. B. durch Beseitigung der Rechtsverletzung, Wegfall der Beschwer, Abhilfe durch den Auftraggeber) – Erledigung der Rüge durch die Erklärung, den Auftrag europaweit auszuschreiben – Keine Markterkundung mehr bei begonnener Beschaffung – Abgrenzung des materiellen Vergabeverfahrens von der bloßen Markterkundung (hier nicht gegeben, da Aufforderung zur Präzisierung der Angebote, Vergabegespräch: Überschreitung der Schwelle zur Markterkundung etc.).

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